Bisher war von einem Gleichgewicht im Pferderückgrat die Rede. Es ging um die einzelnen Bestandteile dieses Gleichgewichts und deren Bedeutung beim Reiten. Im Folgenden geht es um die Hinterhand und dabei als erstes um die Funktionen der Hinterbeine.
Es sind jedoch nicht nur die Hinterbeine, sondern gleich eine ganze Anzahl von Einrichtungen der Hinterhand, die gemeinsam die typischen Bewegungsabläufe des Pferdes erzeugen. Neben den Hinterbeinen mit seinen Hanken, sind dies das Schließen der Kruppe, das Schliessen und Öffnen des Sakralgelenk und die Anpassungen des Zwerchfell.
Die Leistungen der Hinterbeine werden durch ein Zusammenspiel von strukturellem Design, muskulärer Kraft und Hebelwirkungen erzeugt. Drei Hebel ausschließlich mechanischer Wirkung werden von den Bewegungen des Pferdes in Gang gesetzt. Diese Bewegungen werden ihrerseits von Muskeln erzeugt. Strategisch positionierte Hebel verstärken die Wirkung dieser Muskeln. Es mag ungewöhnlich sein, mit 'Hebeln' einen Begriff aus der Physik für die Darstellung der Funktionen eines lebendigen Körpers einzusetzen. Kein anderer Begriff vermag es jedoch, die Fähigkeit des Pferdes sich vorwärts und aufwärts zu bewegen, verständlicher und präziser zu beschreiben.
Das erste Hebelpaar befindet sich in der hinteren Pferdekruppe. Es besteht aus zwei rückwärtigen Beckenfortsätzen, die auf der Basis der Hinterbeine das Becken des Pferdes um das Hüftgelenk rotieren lassen. Von diesen Hebeln erstrecken sich Muskeln zum Kreuzbein weiter oben im Pferdekörper und zu den Knien und Sprunggelenken weiter unten. Knochenfortsätze am oberen Ende der Oberschenkel bilden das zweite Hebelpaar. Von diesen erstecken sich Muskeln zum Kreuzbein, zum Becken und zum Kraftschalter im Lendenbereich. Dieser Hebel und die Muskulaturen, die seine Wirkung entfalten, bilden das Zentrum der Pferdebewegung. Im Sprunggelenk befindet sich das dritte Hebelpaar. Zusammen mit den zuvor genannten Hebeln und dem Kreuzbein initiiert es die rapiden Vorwärtsbewegungen des Pferdes .
Abb.17 Die drei Hebel und die Hanken des Pferdes
Das geschmeidige Zusammenspiel dieser drei Hebel erzeugt die Kraft des Bewegungsablaufs. Es ermöglicht zudem, was auf den ersten Blick wie eine physiologische Unmöglichkeit anmutet. Denn dieses Zusammenspiel gestattet es dem Pferd, seine im Vergleich zur Hinterhand relativ große und gewichtige Vorhand durch relativ kleine Hinterbeine zu heben und vorwärts zu befördern. Dieses Ungleichgewicht in der Körpermasse des Pferdes wird durch das Gewicht des Reiters noch verstärkt.
Der Untersuchung der Hebelwirkungen in den Hinterbeinen des Pferdes möchte ich nun die Beschreibung einer zyklischen Wiederholung in der Bewegung der Hinterbeine hinzufügen und darstellen, wie diese in der Reiterei erhalten und ausgebildet wird. Hinzu kommt eine für die Spezies Pferd typische Eigenart in der Innervierung des Bewegungsapparats.
Die Hinterbeine des Pferdes führen in zyklischer Wiederholung drei verschiedene Bewegungen aus. Sie heben sich an, bewegen sich vor- und abwärts, setzen auf und schieben das Gewicht des Pferdes weiter. Dieser Zyklus, im Zusammenspiel mit den Bewegungen der Vorderbeine, ist die Aktion des equiden Bewegungsablaufs. Aber das ist nicht alles. Zusätzlich wirkt jeder Teil dieser Bewegungsfolge auch auf des Pferdes Haltungen ein.
Die Vorwärts-Abwärts-Bewegung der Hinterbeine erneuert im Takt des Bewegungsablaufs fortlaufend das Heben des Pferderückens. Jedesmal wenn es unter den Schwerpunkt tritt, stabilisiert das innere Hinterbein den Pferderücken. Das Abschieben der Hinterbeine bewirkt den Schwung des Pferdes und senkt gleichzeitig das Kreuzbein. Das finale Heben der Hinterbeine schließt den Kreis.
Weiterführende Erläuterungen, vor allem hinsichtlich der Wirkung des Hinterbeins unter dem Schwerpunkt, finden sich in den Ausführungen zum Sakralgelenk.
In der Reiterei spielt das Gleichgewicht dieser kreisförmigen Bewegung der Pferdehinterbeine eine entscheidende Rolle. Dazu wird ihr Heben, als notwendige Vorbedingung der anderen Phasen, wann immer nötig über Bodenstangen oder unübersichtlichen Bodenverhältnissen im Gelände geübt. Die Vor- und Abwärtsbewegung, die zugleich den Pferderücken hebt und die Unterstützung des Pferdegewichts durch eine tragende Aktion des inneren Hinterbeins nahelegt, wird in klassischen Lektionen (wie dem Reiten auf dem Zirkel oder dem wiederholten Angaloppieren) ausgebildet. Die schiebende Aktion der Hinterbeine, die zugleich das Kreuzbein senkt und die Elastizität der Hanken auslöst, wird im Vorwärtsreiten gestärkt. Springen als Mittel systematischer Ausbildung und heute beliebt, um Pferde vorzustellen, umfasst im Zuge des Absprungs, der Schwebephase und des Landens eine kurze, kräftige Aktivierung aller drei genannten Phasen.
An dieser Stelle mag eine Erklärung des Begriffs 'Hanken' fällig sein. Er drückt die Elastizität der Hüftgelenke aus, die ein Zusammenpressen des Hüftgürtels und der Oberschenkel auf der Grundlage der Pferdeknie zulässt. Das Komprimieren des Abstandes von Hüfte und Oberschenkeln um den Angelpunkt Hüftgelenk wird durch das Senken des Kreuzbeins ausgelöst. Das sogenannte 'Beugen der Hanken' ist ein Mittel, welches das Pferd auf Grund der Flexibilität seiner Hüftgelenke, eines angemessenen Gleichgewichts in den zyklischen Bewegungen seiner Hinterbeine und einer veränderten Innervation im Sakralgelenk einsetzt, um seine optimale Leistung zu erreichen. Im ausgebildeten Pferd wird das Beugen der Hanken von einem Senken der Fesselköpfe begleitet.
Das Pferd ist für schnelle Bewegungen auf der Oberfläche unseres Planeten Erde gemacht. Zum Schutze seines Gleichgewichts und der Sicherheit seiner Beine besitzt es die Fähigkeit auf Bodenunebenheiten unvermittelt zu reagieren. Dieses blitzschnelle Vermögen übertrifft das Reaktionsvermögen des Menschen bei weitem. Es ermöglicht dem Pferd nicht nur schnell zu laufen, zu springen und zu wenden, sondern auch sich auf allen Arten von Böden frei zu bewegen.
* Die zuvor erwähnten Zeichnungen 20.1 und 20.2 in Peter Goodys „Anatomie des Pferdes" haben nicht nur das Verständnis für die vier typischen Haltungen des gerittenen Pferdes ermöglicht. Sie bilden auch die Grundlage der vorliegenden Analyse der Hinterbeine und ihres Zusammenspiels mit den anderen Funktionen in der Hinterhand des Pferdes. Sie gestatten den Rückschluss, dass es im Lendenbereich einen Kraftschalter gibt, in dem die muskulären Kräfte der Pferdes zusammen wirken. Die Zeichnungen 18.1 und 19.4 (links) bestätigen auch das Vorhandensein eines Ruhepunkts im Sitzplatz des Reiters. All diese Einsichten haben Auge und Gefühl für den equiden Bewegungsablauf und den Platz des Reiters in diesem gestärkt.
Beim Reiten und Forschen kam und kommt es immer wieder zu der Frage, wie der Reiter seine Beine einsetzen soll, um die Hinterbeine des Pferdes zu aktivieren. Soll er seine Waden an die Seiten des Pferdes drücken, seine Oberschenkel schliessen oder sie vielleicht besser öffnen? Soll er den Unterbauch mit seinen Knöcheln berühren oder besser mit den Seiten seiner Absätze (eine Aktion, die, neben bei gesagt, erfordert, dass er seine Absätze zuvor hebt).
Und wie sollen seine Beine das Pferd berühren? Ganz leicht und nur für einen Augenblick oder stärker und für einige Momente? Soll er die Seiten des Pferdes mit Absätzen attackieren? Oder so weit gehen, sie mit Sporen zu bearbeiten? Wie wählt er aus der Vielfalt möglicher Einwirkung die richtige aus? Angesichts der fast unzähligen Arten das Pferd zu treiben, stimme ich Nuno Oliveira, dem portugiesischen Meister des 20. Jahrhunderts, zu, wenn er nahelegt, dass es eine Weile dauern mag, bis der Reiter herausfindet, wie er ein Pferd am effektivsten dazu bringt frei auszuschreiten.
Wenn sich jedoch das Pferd erst einmal mobilisiert, dann tritt ein Szenenwechsel ein. Die Berührung der Reiterbeine wird leichter und die Notwendigkeit Beine überhaupt einzusetzen seltener. Alles scheint also von dieser Mobilisierung abzuhängen…