Die Elemente der Reiterei (2007)

von Christine Sander

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Abb.1 Das Kreuzbein des Reiters und des Pferdes

Die Veröffentlichung dieses Textes als Taschenbuch ist für Mai 2007 geplant. Sie können es bis auf weiteres bei der Autorin bestellen

Zu den Abbildungen

Zu den Haltungen

Über dieses Buch:

In dieser ersten Veröffentlichung des Study-Horsemanship eröffnet Christine Sander dem Leser völlig neue Einblicke in die Physiologie der Reiterei. Sie richtet ihr Augenmerk besonders auf die spezielle Mechanik der Pferdehinterhand, das equide Gleichgewicht, sowie die Innervierung der Bewegungsabläufe und bezieht die historische Entwicklung des modernen Sportpferdes in ihre Untersuchungen ein.

Die ebenso detailreiche wie umfassende Darstellung, in die auch zahlreiche vergleichende Betrachtungen des menschlichen Organismus einfließen, vermittelt ein spannungsreiches Bild der Leistungen des Pferdes und seiner Beziehung zum Reiter. Neben der systematischen Darstellung sind es die verständlichen Illustrationen und persönlichen Erfahrungen der Autorin, die dieses kleine Buch zu einem Lesevergnügen machen.

Eine ebenso anspruchsvolle wie verblüffende Lektüre.

Über die Autorin:

Christine Sander wurde 1949 als zweites von sechs Kindern einer schlesischen Flüchtlingsfamilie im damaligen Westdeutschland geboren. Sie wuchs in Bonn auf und wanderte 1975 mit ihrem Mann in die U.S.A. aus. Nach dem Heranwachsen ihrer Söhne kehrten sie nach Europa zurück, wo sie sich 1989 wieder der Reiterei zuwandte. 2005 gründete sie die Association of Interdisciplinary Studies. Ihr Standort nahe der historischen Stadt Bayeux im Zentrum der Normandie ist auch die Heimat des Haras de la Boulaye, der die Grundlage des Study-Horsemanship und damit dieser Studie ist.

Inhalt

I. Das Skelett

a. Gleichgewicht
b. Stabilität
c. Flexibilität
d. Kraft

II. Die Hinterhand

a. Die Hinterbeine
b. Das Schließen der Hinterhand
c. Das Sakralgelenk
d. Das Zwerchfell

III. Der Bewegungsablauf

a. Das Pferd bei der Arbeit
b. Das freilaufende Pferd
c. Das gerittene Pferd
d. Gleichgewicht, Haltung und Gang

IV. Nerven

a. Drei Systeme
b. Das autonome Nervensystem
c. Das zentrale Nervensystem
d. Das periphäre Nervensystem

Nachwort

Über die Abbildungen

I. a. Skelett/Gleichgewicht

Wir beginnen mit einer Art zentriertem panoramischen Blick. Und - alle Elemente der Reiterei sind gleich hier!

Sieht man sich ein Pferdeskelett an, so treten bei genauerem Hinsehen eine ganze Reihe von Einzelnheiten zutage, die zuallererst von einem Gleichgewicht im Pferdekörper sprechen. Am bemerkenswertesten daran ist, dass die Gesäßknochen des Reiters den Pferderücken an den Wirbeln T12/13 genau im Zentrum des Pferderückgrats belasten. In anderen Worten, der Reiter nimmt im Gleichgewicht des Pferdes einen zentralen Platz ein. Von seinem Sitz führt und leitet er das Pferd in vollkommener nervlicher Übereinstimmung.

Sieht man sich die äußersten Enden dieses Gleichgewichts an, dann nimmt man wahr, dass dem Kopf des Pferdes vom Schweif das Gleichgewicht getragen wird. Und, nach längerem Ausprobieren und Testen im Sattel merkt man, dass weder der Kopf noch der Schweif an den direkten nervlichen Übertragungen, von denen hier noch häufig die Rede sein wird, einen Anteil haben. Im Gegenteil, im oberen Hals, da wo Kopf und Hals verbunden sind, treffen sich zwei Kommunikationssysteme. Auch von diesem zweiten System wird die Rede sein.

Das Gelenk zwischen dem Hinterhaupt und dem ersten Halswirbel setzt das Pferd beim Richtungswechsel ein. Dabei folgt es der Richtung seiner Augen. In diesem Gelenk beugt es das Genick. Im ersten Fall wendet es den Kopf in diesem Gelenk seitwärts. Im zweiten schiebt es das Hinterhaupt vor und spannt in diesem Zuge das lange Band. (Abb.2).

Den ganz anders gearteten zweiten Halswirbel setzt es zur Feinabstimmung der Spannung des langen Bandes ein. Die Spannung des langen Bandes wird vorn vom erwähnte Beugen des Genicks und von hinten vom Senken des Kreuzbeins erzeugt (Abb.3). Das Pferd hebt den zweiten Halswirbel, um die Vorhand zu entlasten und den Spielraum seiner Vorderbeine zu erweitern.

Der große zweite Halswirbel korrepondiert mit vier kleinen Wirbeln, die das Kreuzbein mit dem Schweif verbinden. Diese werden in academia dem Schweif zugeordnet. Tatsächlich jedoch sind sie - ganz anders als die freitragenden Schweifwirbel - die Basis des Beckenzwerchfells und spielen eine Rolle in der Steuerung der Leichtigkeit (Abb.4).

Bewegt man sich weiter Richtung Zentrum, dann sieht man, dass das Kreuzbein den fünf unteren Wirbeln des Halses das Gleichgewicht trägt. Das Kreuzbein selbst besteht ursprünglich aus ebenfalls fünf Wirbeln, die erst im Laufe der ersten Lebensjahre des Pferdes zu einem Knochen zusammenwachsen (Abb.5).

Die sieben Halswirbel des Pferdes haben folgende Aufgaben: Die zwei obersten sind, wie schon genannt, Teil einer gesonderten Funktionseinheit. Die vier unteren bestimmen die Spannung des langen und des oberen Rückenmuskels. Der verbleibende dritte Halswirbel trägt die Steuerungs- und Motivationseinheit im oberen Pferdehals- und Kopf.

Zwischen Hals und Kreuzbein erstreckt sich das Rückgrat des Pferdes.
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Abb.6 Eine Gegenüberstellung Ideal/Real: Das Rückgrat im bereinigten (oben) und im vorgefundenenen Skelett (unten)
Es besteht aus achtzehn Brust- und sechs Lendenwirbeln. Diese vierundzwanzig Wirbel bilden drei Abschnitte von je acht Wirbeln. Jeder Abschnitt hat seine ganz eigene Form und Funktion. Zusammen bilden sie die freitragende Brücke, die genau in ihrem Zentrum den Reiter trägt. Diese Brücke wird vorne von Schultern und Vorderbeinen des Pferdes gestützt. Sie wird hinten von den Hinterbeinen des Pferdes angehoben und fortgetragen.

Lendengegend und Kreuzbein sind im Sakralgelenk verbunden. Ganz anders als die straffe Verbindung zwischen Lendenbereich und Kreuzbein im Menschen, hat dieses Gelenk im Pferd einen gewissen Spielraum. Dieser Raum spielt eine entscheidende Rolle im Bewegungsablauf des Pferdes. Er betrifft auch das Heben und Stützen der freitragenden Pferdewirbelbrücke.
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Abb.7 Das Sakralgelenk in Ausgangsstellung (links) und in geschlossener Stellung (rechts)
Im Sakralgelenk kommt es zu einem Zusammenspiel der Bewegungen und der Haltungen des Pferdes. Die Reiterei verstehen heißt deshalb das Sakralgelenk verstehen und seine Rolle in dem fortgesetzten Akt des Pferdes, sein eigenes und das Gewicht des Reiters auszubalancieren und vorwärts zu schnellen.

* Hier endete dieser Text ursprünglich. In den Nachforschungen des Jahres 2005 und weiter im Jahre 2006 stellte sich die korrespondierende Rolle des Nervenabschnitts C8 im equiden zentralen Nervensystem heraus. Dieser Nervenabschnitt ohne Wirbel befindet sich zwischen T1, dem ersten Wirbel der freitragenden Wirbelbrücke und dem untersten Halswirbel, C7.

Von C8 senkt das Pferd den Kopf und Hals um zu grasen. Von hier hebt es den Kopf um zum Beispiel einen Apfel vom Baum zu pflücken. Von C8 aus geht es in Haltung. Von C8 aus wendet und biegt es sich.

Der Nervenabschnitt C8 am vorderen Ende der freitragenden Wirbelbrücke befindet sich in der Mitte der Vorhand. Er funktioniert nur dann richtig, wenn er gerade auf das Sakralgelenk L6/S1 am hinteren Ende der freitragenden Wirbelbrücke ausgerichtet ist. Der Grund für mögliche Störungen ist fast immer des Pferdes Schiefe.

Der Ursprung der Schiefe ist der vorderste Wirbel des flexiblen mittleren Teils, T9. Die Schiefe beginnt hier mit einer Neigung der Dornfortsätze dieses und der umgebenden Wirbel nach rechts.

Zum Ausgleich eines so entstehenden Ungleichgewichts ist die untere Halsbasis des Pferdes häufig nach links verschoben. Das rechte Hinterbein läuft aus der Spur und ist demzufolge schwächer und weniger geschickt als das linke.

Die so in fast allen Pferden vorgefundene, mehr oder weniger stark ausgeprägte Schiefe schränkt die Bewegungsfreiheit des Pferdes ein. Sie hindert den freien Fluss der Nervenimpulse vom zentralen zum peripheren Nervensystem….


I. b. Skelett/Stabilität

Als Nächstes werden wir uns den vorderen Abschnitt der freitragenden Wirbelbrücke ansehen und seine Funktionen im Bewegungsablauf des Pferdes. Diese Untersuchung endet mit der Darstellung eines heute in der Reiterei weit verbreiteten Missverständnisses, das weit reichende Folgen hat.

Der erste Abschnitt des Pferderückgrats (T1-8) verleiht dem Pferdekörper Stabilität in der Bewegung. Die Wirbel dieses Abschnitts setzen sich, wie alle anderen Wirbel des Pferderückgrats, auf der Oberseite in sogenannten Dornfortsätzen fort. Beginnend mit einem kurzen an T1 wachsen sie gen Mitte dieses Abschnitts zu beträchtlicher Länge heran. Die Art, wie diese Dornfortsätze aufwärts und nach hinten quasi aus dem Wirbelkörper herausschießen, wirkt zunächst merkwürdig. Erst auf den zweiten Blick offenbahrt sich ihre zweckmäßige Konstruktion und Statik.
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Abb.8 Die zwei Dornfortsatztypen

Die längsten Dornfortsätze (T5-8) stützen die Schultern des Pferdes. Der equide Schultermechanismus besteht aus aerodynamisch geformten Schulterblättern und starken Bandscheiben, die durch mehrere Muskel- und Bindegewebslagen am Platz gehalten werden. Dieser Mechanismus federt den Schwung ab, der mittels dreier genau aufeinander abgestimmten Hebelwirkungen in der Hinterhand des Pferdes entsteht. Sie stützen die Vorderbeine, die das Gewicht des Pferdes lediglich periodisch und nur für Sekundenbruchteile im genauen Takt der Bewegungen tragen.
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Abb.9 Die Schultern des Pferdes

Der Hohlraum zwischen den ersten acht Brustwirbeln, den ihnen verbundenen Rippen und dem Sternum bieten dem Herzen des Pferdes bei plötzlichen Richtungs- und Gangartwechseln Schutz. Diese acht Rippen sind die einzig voll ausgebildeten im Pferd. Sie sind mit dem Sternum zwischen den Vorderbeinen verbunden.
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Abb.10 Das Herz des Pferdes

Die Rippen des Pferdes sind, wie die zugehörigen Wirbel und deren Dornfortsätze, in Vierergruppen gegliedert. Die ersten vier Rippen sind relativ kurz und bilden den vorderen Brustkorb. Die vier anschliessenden sind die starken Rippen, auf denen der Schultermechanismus ruht. Vier Rippen gestatten dem Pferd, sich ‘in den Rippen zu biegen’. Vier weitere unterstützen das Gesäß des Reiters. Die verbleibenden zwei Rippen sind dem Becken und den Oberschenkeln muskulär verbunden. Des Reiters Gesäßknochen werden von den zwei längsten Rippen T12 und T13 unterstützt.
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Abb.11 Die Rippen des Pferdes

Zum Thema Vor-, Mittel- und Hinterhand des Pferdes gibt es eine weitere Beobachtung, die mit den Dornfortsätzen T9-12 des flexiblen Mittelteils in Zusammenhang steht. Auch diese Dornfortsätze schießen quasi aufwärts und nach hinten aus dem Wirbelkörper heraus, wobei sich deren Winkel und Längen zusehends verringern.

Die zwölf Dornfortsätze vor des Reiters Gesäßknochen haben eine andere Aufgabe als die, auf denen das Gesäß des Reiters ruht. Sie sind der Anker des oberen Rückenmuskels, mittels dessen das Pferd seine Vorhand hebt. Sie sind auch der vordere Anker des langen Bandes, das sich vom Hinterhaupt über den zweiten Halswirbel zum Dornfortsatz T5 erstreckt und von dort auf den verbleibenden Dornfortsätzen bis zum Ende des Kreuzbeins verläuft. Die Dornfortsätze, auf denen der Mensch sitzt, sind hingegen kürzer und breiter. Sie sind zudem an der Kraftübertragung von der Hinterhand auf die Vorhand beteiligt.

Das Vorhandensein zweier unterschiedlicher Dornfortsatztypen weist darauf hin, dass es trotz der drei eindeutig verschiedenen Rückgratsabschnitte – dem stabilisierenden, dem flexiblen und dem Kraft übertragenden – so etwas wie eine Mittelhand im Pferd nicht gibt.

* Im nächsten Textabschnitt beginne ich mit der Darstellung nervlicher Übereinstimmungen von menschlichen und equiden Dermatomen. Eine Erläuterung mag deshalb an dieser Stelle angebracht sein. Dermatome sind Hautregionen. Diese einzelnen Regionen der menschlichen Oberfläche werden von jeweils einem bestimmten Abschnitt des zentralen Nervensystems unmittelbar innerviert. Die Übertragung dieser Innervierungen auf das Pferd und deren Funktionsweise sind Gegenstand des zweiten Teils dieser Studie und werden dort detailliert im Einzelnen behandelt.

Die Untersuchung der Verteilung der Dermatome im menschlichen Körper und ihrer Funktion beim Reiten geht auf eine erstaunliche Entdeckung zurück, die ich Anfang 2004 beim Betrachten eines anatomischen Textbuches machte. War es eine Intuition, die mich eine Osmose zwischen Dermatomen und den Einwirkungen des Reiters erahnen ließ? Wie auch immer, ich bewahrte diese Intuition nah am Herzen und begann in den darauf folgenden Monaten die Funktionen der Dermatome im Sattel auszuprobieren und systematisch zu verifizieren.

Soweit mein Vorgehen. Nun aber zum Pferd. Die Annahme ist berechtigt, dass auch das Pferd über Dermatome verfügt. Ihr Verlauf im Pferdekörper ist mir jedoch trotz Recherche nicht bekannt und so steht zu vermuten, dass die Dermatome des Pferdes bisher nicht schlüssig erforscht wurden. Ich beschreibe deshalb die Wirkung der menschlichen Dermatome nicht auf die Dermatome des Pferdes, sondern auf die Abschnitte des zentralen Nervensystems, die diese Dermatome (unabhängig von deren exaktem Verlauf) innervieren. Dieser Ansatz erscheint mir auch deshalb richtig, weil des Reiters aufrechte Wirbelsäule auf dem horizontalen Rückgrat des Pferdes ruht und somit direkt auf das Rückgrat des Pferdes und das zentrale Nervensystem in diesem Rückgrat einwirkt.

Die Aufwärtsdehnung des reiterlichen Rückenmarkstamms durch das Anheben des zweiten Halswirbels (C2) aktiviert das Pferd. Das Heben des Kinns stabilisiert den oberen Hals und Kopf des Pferdes (C3). Das Wenden des Reiterkopfes von der Mitte des Halses aus (C4) wendet den Pferdehals. Das Herausdrehen der Reiterhand, dem ein Drehen des Unterarms zwangsweise folgt, unterstützt den Richtungswechsel des Pferdes. Diese Wirkung entsteht durch die Dermatome C5 und T1, die parallel den inneren Arm des Menschen hinunter verlaufen. Das Schließen der Daumen bringt das gleichgewichtete Pferd zum Halten (C6). Ein Wenden der Reiterschultern initiiert und begleitet des Pferdes Richtungswechsel (C7).

Alle hier dargestellten Einwirkungen des Reiters auf sein Pferd gehören zum Repertoire klassischer Reitkunst, wenn auch nicht immer der deutschen (so ist zum Beispiel das Herausdrehen der Reiterhand typisch für die französische Reiterei). Das Bemerkenswerteste an der Verteilung der Dermatome im menschlichen Körper jedoch ist die Tatsache, dass der Ringfinger vom Dermatom C8 innerviert wird. Von diesem Nervenabschnitt C8 also, der sich ohne korrespondierenden Wirbel im Zentrum der Vorhand befindet.

Mancher mag argumentieren, es habe lediglich den Anschein, als ob die reiterlichen Einwirkungen den einzelnen Abschnitten des zentralen Nervensystems entsprängen. In Wirklichkeit sei nicht das sensorisch-motorische System des Reiters Grundlage der Kommunikation, sondern eine Kombination muskulärer Einwirkungen. Dieses Argument werden voraussichtlich diejenigen Reiter wählen, die ihre Pferde mit Muskeleinsatz reiten und, wenn sie im Gegeneinander zwischen Pferd und Reiter nicht mehr zurecht kommen, diese muskuläre Einwirkung durch den Einsatz mechanischer Hilfsmittel verstärken. Die Reiter jedoch, die im Miteinander die Reaktion des Pferdes auf des Menschen Gedanken und Willen erlebt haben, werden mir zustimmen, dass wir es hier mit einem Phänomen zu tun haben, das der weiteren Erforschung wert ist.

Selbst wenn die nervlichen Übereinstimmungen und die Übertragung von Nervenimpulsen zwischen Reiter und Pferd bisher nicht wissenschaftlich erforscht wurden und sich vielleicht nie stichhaltig werden nachweisen lassen, so ist ihre Systematik doch die physiologische Grundlage der Reiterei.


I. c. Skelett/Flexibilität

In diesem Kapitel geht es um das Wunder des flexiblen mittleren Abschnitt im Pferderückens und um den Reiter, der ein Teil dessen ist. Allerdings hat dieses Wunder, wie sich herausgestellt hat, heute eine Einschränkung...

Der flexible Mittelteil des Pferdes ist der Sitzplatz des Reiters. Es ist ein königlicher Sitz, ein Platz, von dem regiert wird. In diesem mittleren Abschnitt werden die Bewegungsabläufe des Pferdes koordiniert. Das schnelle Laufen, das Springen, die spielerische Entfaltung des Pferdes auf der Weide und die Ausführungen der Hohen Schule, kurz gesagt, alle Bewegungen des Pferdes nehmen hier ihren Ursprung.

Im flexiblen Mittelteil steht dem Reiter alles zur Verfügung was er braucht um das Pferd zu meistern. Von hier spricht er die Haltungen des Pferdes an. Und es gibt in diesem Sitzplatz einen Ruhepunkt, auf dem der Reiter in vollkommener Stille sitzen und die Welt an seinen staunenden Augen vorbeiziehen lassen kann.
Abb.12 Der Ruhepunkt im Sitzplatz des Reiters

Gleichermaßen steht dem Pferd dieser Rückenabschnitt für die Beherrschung seiner Kräfte zur Verfügung. Alle Fähig- und Geschicklichkeiten, die ja den Wert eines Pferdes erst ausmachen, sind hier begründet. Und doch nimmt auch von hier, von diesem flexiblen Mittelteil, diesem Sitz des Reiters, die Schiefe des modernen Pferdes ihren Ausgang.

Bemühungen um die Zucht eines schnelleren Pferdes, vor allem im England des 19. Jahrhunderts, haben die Verlängerung dieses mittleren Rückenabschnitts im Pferd bewirkt. Die Umwandlung der ehemals quadratischen Grundform des Pferdes in ein Rechteckformat hat das schnellere und kraftvollere Pferd anfällig für Unregelmäßigkeiten in der freitragenden Wirbelbrücke seines Rückgrats gemacht. Dieses neue Rechteckpferd und seine Tendenz zur Schiefe hat den neue Arten des Reitens Anlass gegeben, die in der reiterlichen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts deutlich belegt sind.

Zusätzlich zu den Funktionen, die im flexiblen mittleren Pferderücken Reiter und Pferd zur Verfügung stehen, dient dieser Teil des Pferdekörpers einer weiteren Funktion, die das moderne Pferd einer speziellen Gefährdung aussetzt. Er nämlich spielt auch im Fluchttrieb des Pferdes eine wichtige Rolle. Die Fähigkeit ohne Umschweife zu flüchten braucht das friedliebende Pferd um in der freien Natur seine Sicherheit zu wahren. Es tut dies auf folgende Weise: Wittert ein frei lebendes Pferd Gefahr, so hebt es den Kopf und schärft seine Sinne. Bestätigen sich seine Vermutungen, so senkt es instinktiv den flexiblen Mittelteil seines Rückens. Dieses Senken löst den Fluchtreflex aus.

Der erfahrene Reiter weiß um die Gefahren, die sich für Reiter und Pferd aus dem Senken des flexiblen mittleren Rückenabschnitts unter dem Sattel ergeben. Kurzfristig droht die kopflose Flucht, bei der Reiter und Pferd zu Schaden kommen können. Bei wiederholtem Senken kommt es längerfristig zu Entzündungen zwischen den Dornfortsätzen. Die Folgen dieser zu Recht gefürchteten 'kissing spines' können die Möglichkeit, ein solches Pferd je wieder in Ruhe und Losgelassenheit zu reiten auf einen Schlag zunichte machen.

Kissing spines treten zwischen den Dornfortsätzen T9-16 auf. Sie haben neben dem Senken des flexiblen mittleren Rückenabschnitts weitere Ursachen wie zum Beispiel das Öffnen des Sakralgelenks, (dem ein Fallenlassen der gesamten freitragenden Wirbelbrücke folgt) oder aber verfrühte Leistungsanforderungen und Unfälle. Die Form resultierender Arthrosen in den Dornfortsätzen hängt in der Regel von der Geschichte ihrer Entstehung ab. Das Skelett der Vollblutstute Sinja wurde zur Vorlage unseres virtuellen 3D Skeletts, welches die Grundlage der Illustrationen dieses Textes ist. Die merkwürdige Ausformung der Dornfortsätze T9-16 dieses Skeletts deutet auf deren ständiges Berühren im Takt der Galoppsprünge hin.
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Abb.13 Kissing spines im Sitzplatz des Reiters

Das Gegenteil des fallengelassenen Pferderückens ist der angehobene Sitzplatz des Reiters. Er ist das physiologische und psychologische Gütezeichen des zweiten Ganges. Dieses paradiesischen Zustandes also, in dem sich das Pferd kraftvoll und losgelassen, unter der vollen Kontrolle des Reiters, ohne Vorbehalte für den Reiter und die gemeinsame Sache einsetzt. Es ist dies eine Option, die jedem gesunden Pferd offen steht. Der zweite Gang des Pferdes wurde schnell zum Kern meiner Untersuchungen und des Themas, wie Reiten ursprünglich gemeint gewesen sein mag.

Auf dem angehobenen mittleren Rückenabschnitt ruhen die Gesäßknochen des Reiters an den Dornfortsätzen T12/13 des Pferdes, am Übergang zwischen dem oberen und dem langen Rückenmuskel. Seine entspannt hängenden Oberschenkel liegen genau auf der Mitte des unteren Rückenmuskels. Der Reiter befindet sich dadurch, ohne dass er anders könnte, in direktem Körperkontakt mit den drei großen Kraftquellen des Pferdes.
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Abb.14 Die drei Rückenmuskulaturen und das Zwerchfell des Pferdes

Die Drehungen des reiterlichen Oberkörpers im flexiblen Mittelteil der menschlichen Wirbelsäule (T10-12) überträgt sich auf den flexiblen mittleren Rückenabschnitt des Pferdes genau vor seinen Gesäßknochen (T10-12). Sein Gesäß und seine beständig fallengelassenen Absätze wirken auf die Nervenabschnitte S2/3 im Sakralgelenk des Pferdes ein.

Und so wie der Reiter seinen Rücken einrichtet oder wendet, übertragen sich seine Nervenimpulse auf das Pferd. Dadurch hat er ein schlichtes, doch hocheffektives Mittel, um das Pferd entsprechend seiner Wünsche und Ziele geradezurichten und zu biegen, vorwärtszureiten und zu versammeln.

Eine detailiertere Betrachtung ergibt sich im zweiten Teil dieser Studie...

* Ursprünglich kam dieser Text zu dem Schluss, dass das Pferd nicht nur wunderbar gebaut sondern auch wie für den Menschen geschaffen ist. Die Ausführungen wiesen auf die gelunge Symbiose von Leistungs- und Kontrollfunktionen hin, die nicht nur im flexiblen mittleren Rückenabschnitt des Pferdes, sondern in seiner gesamten Physiologie immer wieder anzutreffen sind. Und auf die Tatsache, dass das rechteckige Pferd nicht mehr das Pferd ist, welches es einmal war, sondern ein Zuchtergebnis, das in Reaktion auf die Entdeckung der Geschwindigkeit entstand. Die Untersuchung verglich den gesenkten und den angehobenen mittleren Rückenabschnitt mit den Optionen des Lebens und wies auf den Humor hin, der häufig in der Unmittelbarkeit von “geht” und “geht nicht” entsteht. Zu guter Letzt sprach der Text von dem erhöhten Verletzungsrisiko, das für Mensch und Biest mit dem Reiten des schnelleren, kraftvolleren Pferdes entstanden ist. Und verwies auf die Schiefe des Pferdes als die Herausforderung der modernen Reiterei.

Und nun, ein Jahr später, stellt sich heraus, dass Weiteres zu diesen Themen zu sagen ist…


I. d. Skelett/Kraft

Im dritten Abschnitt des freitragenden Pferderückens ist die Kraft des Pferdes verankert. In diesem Abschnitt wird der Schub der Hinterhand auf die Vorhand übertragen.

Der Kraft übertragende Abschnitt umfasst die zwei letzten Brustwirbel, T17 und T18, und sechs Lendenwirbel, L1-6. Alle Wirbel sind mit einem aufrechten Dornfortsatz, ähnlichen denen auf denen das Gesäß des Reiters ruht ausgestattet. Zusätzlich zu diesen relativ kurzen und breiten Dornfortsätzen, erstrecken sich zwölf weitere flach und ausgedehnte Dornfortsätze seitwärts, von jedem Lendenwirbel einer nach links und einer nach rechts .
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Abb.15 Der Lendenbereich bereinigt (links) und wie vorgefunden (rechts)

Den Brustwirbeln T17/18 des Kraft übertragenden Abschnitts ist der obere Rand des Zwerchfells verbunden. Sie gehören dem Teil des Pferdekörpers an, der im Menschen keine Entsprechung findet. Dieser Zusammenhang wird unten im Detail weiter besprochen. Zwischen L2 und L3 gibt es eine muskuläre Anordnung, die einem Kraftschalter gleichkommt und an L4 befindet sich das Zentrum der Kraft.

Im Kraftschalter kommen die wichtigsten Bewegungsmuskulaturen des Pferdes zusammen. Diese sind

- die langen Rückenmuskeln, die vom Kreuzbein zu den Wirbeln C7-4 des unteren Halses verlaufen

- die unteren Rückenmuskeln, die sich vom Kraftschalter bei L2/3 vorwärts zur ersten Rippe erstrecken

- Bauchmuskulaturen, die von der unteren Mittellinie aufwärts verlaufen und diese mit dem Lendenbereich verbinden

- Bewegungsmuskulaturen, die des Pferdes Oberschenkel und Oberarme mit dem Kraftschalter verbinden und

- eine Fortsetzung des oberen Rückenmuskels, der sich von den unteren Halswirbel zu T12 und darüber hinaus zum Kraftschalter ersteckt und in diesem verankert ist.

Der Kraftschalter des Pferdes korrespondiert mit den Dermatomen L2 und L3 des Menschen. Wie zuvor erwähnt sind Dermatome streifenartige Regionen der menschlichen Haut, die von jeweils einem Abschnitt des zentralen Nervensystems direkt innerviert werden.

Die Dermatome L2/3 im Menschen erstrecken sich von den Abschnitten L2 und L3 des zentralen Nervensystems über seine Lendenpartie, zur Vorderseite der Oberschenkel, bis hinunter zur Innenseite der Knöchel. Im klassischen aufrechten Sitz wirkt der Reiter mit Lenden und Unterschenkeln auf das Pferd ein. Im Vorwärtssitz, dieser völlig neuen Art das Pferd zu reiten, die der italienische Offizier F. Caprilli gegen Ende des 19. Jahrhunderts für das Reiten des modernen rechteckigen Pferdes entdeckte, wirkt der Reiter mit Oberschenkeln und Waden ein. Beide Einwirkungskombinationen, Lendengegend und unteres Bein oder Oberschenkel und Waden, sind - auch wenn sie ganz unterschiedlichen Auffassungen der Reiterei entspringen - das Resultat der selben nervlichen Übertragungen, L2/3.

Auf der Suche nach geeigneten Übungen für eine Schulung des modernen Reiters überraschte mich eine Feststellung des Physikers und Physiologen Moshe Feldenkrais’: “…die Kraft entspringt der Mitte des Körpers, ihr Zentrum sind die Geschlechtsorgane…” Bei genauerem Hinsehen fand sich die Gebärmutter der Stute verborgen und gut beschützt an L4 unter dem Lendenbereich des Pferdes. Die schiere Anzahl von Quadratzentimeter, die für die Anheftung von Muskulaturen in und um den vierten Lendenwirbel zur Verfügung stehen, spricht für Feldenkrais' Theorie auch im Pferd.
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Abb.16 Die Gesäßknochen des Reiters und das Pferd hinter ihnen

Und noch ein weiteres interessantes Detail.

In der menschlichen Wirbelsäule folgt dem zwölften Brustwirbel der erste Lendenwirbel. Im Pferd gibt es sechs weitere Brustwirbel, T13-18, zu denen es auf Grund ihres Fehlens im Menschen keine Übertragungen aus dem menschlichen Nervensystem geben kann. Das Pferd kann sich in diesem Abschnitt in eine oder beide von zwei Richtungen bewegen. Es hebt diesen Rückenabschnitt beim Schliessen der Hinterhand. Es kann in diesem Bereich seitwärts nachgeben. Das Pferd hebt diesen Abschnitt auch in Vorfreude auf das Springen, einen großen Galopp oder einen bevorstehenden Ausritt. Und es hebt diese Wirbel beim Wiehern.

Bewegungsfeude und Kommunikation von Pferd zu Pferd sind also genau in dem Rückenabschnitt angesiedlt, zu dem der Mensch keine körperliche Korrespondenz aufnehmen kann. Lässt das Pferd diese Wirbel los und senkt sie ab, so hat er kein körpereigenes Mittel, um sie wieder zu heben. Dieser physiologische Zusammenhang erklärt, warum des Pferdes Beteiligung und seine Zufriedenheit unter dem Sattel Grundvoraussetzungen des Reitens sind.

*Als ich im Jahre 2003 die Anatomie des Pferdes zum ersten Mal genauer unter die Lupe nahm und begann ihre mögliche Relevanz für die Reiterei zu erforschen, fiel mir eine Neuerscheinung in die Hände, die in den darauf folgenden Monaten und Jahren zum zuverlässigen Begleiter wurde. “Die Anatomie des Pferdes” von Peter Goody, mit 250 Zeichnungen von John Goody hat sich als unersetzlich für das Verständnis des equiden Bewegungsapparats und die Art und Weise, wie das Pferd den Reiter trägt erwiesen. Und noch immer ist der Vorgang nicht abgeschlossen, aus Text und Bildern eine Vorstellung von Wesen und Bewegungsabläufen des Pferdes zu entwickeln, die im Umkehrschluss reiterliche Sensibilität informiert.

Von besonderem Interesse waren zu Beginn die Illustrationen 20.1 und 20.2, die die Muskelsysteme des Pferdes als Zugrichtungen darstellen. Die sich durch diese Zeichnungen ergebende Möglichkeit, die muskuläre Tätigkeit des Pferdes unabhängig von den Muskellagen zu studieren, ermöglichte ihre Zuordnung zu den Haltungen des Pferdes. Das Verständnis der vier typischen Haltungen des Reitpferdes hat die Erforschung des zweiten Gangs unterstützt und gibt heute in Schulung und Ausbildung wertvolle Hinweise auf das Fortschreiten des Pferdes und des Reiters zum zweiten Gang.

II. a. Die Hinterhand/Die Hinterbeine

Bisher war von einem Gleichgewicht im Pferderückgrat die Rede. Es ging um die einzelnen Bestandteile dieses Gleichgewichts und deren Bedeutung beim Reiten. Im Folgenden geht es um die Hinterhand und dabei als erstes um die Funktionen der Hinterbeine.

Es sind jedoch nicht nur die Hinterbeine, sondern gleich eine ganze Anzahl von Einrichtungen der Hinterhand, die gemeinsam die typischen Bewegungsabläufe des Pferdes erzeugen. Neben den Hinterbeinen mit seinen Hanken, sind dies das Schließen der Kruppe, das Schliessen und Öffnen des Sakralgelenk und die Anpassungen des Zwerchfell.

Die Leistungen der Hinterbeine werden durch ein Zusammenspiel von strukturellem Design, muskulärer Kraft und Hebelwirkungen erzeugt. Drei Hebel ausschließlich mechanischer Wirkung werden von den Bewegungen des Pferdes in Gang gesetzt. Diese Bewegungen werden ihrerseits von Muskeln erzeugt. Strategisch positionierte Hebel verstärken die Wirkung dieser Muskeln. Es mag ungewöhnlich sein, mit 'Hebeln' einen Begriff aus der Physik für die Darstellung der Funktionen eines lebendigen Körpers einzusetzen. Kein anderer Begriff vermag es jedoch, die Fähigkeit des Pferdes sich vorwärts und aufwärts zu bewegen, verständlicher und präziser zu beschreiben.

Das erste Hebelpaar befindet sich in der hinteren Pferdekruppe. Es besteht aus zwei rückwärtigen Beckenfortsätzen, die auf der Basis der Hinterbeine das Becken des Pferdes um das Hüftgelenk rotieren lassen. Von diesen Hebeln erstrecken sich Muskeln zum Kreuzbein weiter oben im Pferdekörper und zu den Knien und Sprunggelenken weiter unten. Knochenfortsätze am oberen Ende der Oberschenkel bilden das zweite Hebelpaar. Von diesen erstecken sich Muskeln zum Kreuzbein, zum Becken und zum Kraftschalter im Lendenbereich. Dieser Hebel und die Muskulaturen, die seine Wirkung entfalten, bilden das Zentrum der Pferdebewegung. Im Sprunggelenk befindet sich das dritte Hebelpaar. Zusammen mit den zuvor genannten Hebeln und dem Kreuzbein initiiert es die rapiden Vorwärtsbewegungen des Pferdes .
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Abb.17 Die drei Hebel und die Hanken des Pferdes

Das geschmeidige Zusammenspiel dieser drei Hebel erzeugt die Kraft des Bewegungsablaufs. Es ermöglicht zudem, was auf den ersten Blick wie eine physiologische Unmöglichkeit anmutet. Denn dieses Zusammenspiel gestattet es dem Pferd, seine im Vergleich zur Hinterhand relativ große und gewichtige Vorhand durch relativ kleine Hinterbeine zu heben und vorwärts zu befördern. Dieses Ungleichgewicht in der Körpermasse des Pferdes wird durch das Gewicht des Reiters noch verstärkt.

Der Untersuchung der Hebelwirkungen in den Hinterbeinen des Pferdes möchte ich nun die Beschreibung einer zyklischen Wiederholung in der Bewegung der Hinterbeine hinzufügen und darstellen, wie diese in der Reiterei erhalten und ausgebildet wird. Hinzu kommt eine für die Spezies Pferd typische Eigenart in der Innervierung des Bewegungsapparats.

Die Hinterbeine des Pferdes führen in zyklischer Wiederholung drei verschiedene Bewegungen aus. Sie heben sich an, bewegen sich vor- und abwärts, setzen auf und schieben das Gewicht des Pferdes weiter. Dieser Zyklus, im Zusammenspiel mit den Bewegungen der Vorderbeine, ist die Aktion des equiden Bewegungsablaufs. Aber das ist nicht alles. Zusätzlich wirkt jeder Teil dieser Bewegungsfolge auch auf des Pferdes Haltungen ein.

Die Vorwärts-Abwärts-Bewegung der Hinterbeine erneuert im Takt des Bewegungsablaufs fortlaufend das Heben des Pferderückens. Jedesmal wenn es unter den Schwerpunkt tritt, stabilisiert das innere Hinterbein den Pferderücken. Das Abschieben der Hinterbeine bewirkt den Schwung des Pferdes und senkt gleichzeitig das Kreuzbein. Das finale Heben der Hinterbeine schließt den Kreis.
Weiterführende Erläuterungen, vor allem hinsichtlich der Wirkung des Hinterbeins unter dem Schwerpunkt, finden sich in den Ausführungen zum Sakralgelenk.

In der Reiterei spielt das Gleichgewicht dieser kreisförmigen Bewegung der Pferdehinterbeine eine entscheidende Rolle. Dazu wird ihr Heben, als notwendige Vorbedingung der anderen Phasen, wann immer nötig über Bodenstangen oder unübersichtlichen Bodenverhältnissen im Gelände geübt. Die Vor- und Abwärtsbewegung, die zugleich den Pferderücken hebt und die Unterstützung des Pferdegewichts durch eine tragende Aktion des inneren Hinterbeins nahelegt, wird in klassischen Lektionen (wie dem Reiten auf dem Zirkel oder dem wiederholten Angaloppieren) ausgebildet. Die schiebende Aktion der Hinterbeine, die zugleich das Kreuzbein senkt und die Elastizität der Hanken auslöst, wird im Vorwärtsreiten gestärkt. Springen als Mittel systematischer Ausbildung und heute beliebt, um Pferde vorzustellen, umfasst im Zuge des Absprungs, der Schwebephase und des Landens eine kurze, kräftige Aktivierung aller drei genannten Phasen.

An dieser Stelle mag eine Erklärung des Begriffs 'Hanken' fällig sein. Er drückt die Elastizität der Hüftgelenke aus, die ein Zusammenpressen des Hüftgürtels und der Oberschenkel auf der Grundlage der Pferdeknie zulässt. Das Komprimieren des Abstandes von Hüfte und Oberschenkeln um den Angelpunkt Hüftgelenk wird durch das Senken des Kreuzbeins ausgelöst. Das sogenannte 'Beugen der Hanken' ist ein Mittel, welches das Pferd auf Grund der Flexibilität seiner Hüftgelenke, eines angemessenen Gleichgewichts in den zyklischen Bewegungen seiner Hinterbeine und einer veränderten Innervation im Sakralgelenk einsetzt, um seine optimale Leistung zu erreichen. Im ausgebildeten Pferd wird das Beugen der Hanken von einem Senken der Fesselköpfe begleitet.

Das Pferd ist für schnelle Bewegungen auf der Oberfläche unseres Planeten Erde gemacht. Zum Schutze seines Gleichgewichts und der Sicherheit seiner Beine besitzt es die Fähigkeit auf Bodenunebenheiten unvermittelt zu reagieren. Dieses blitzschnelle Vermögen übertrifft das Reaktionsvermögen des Menschen bei weitem. Es ermöglicht dem Pferd nicht nur schnell zu laufen, zu springen und zu wenden, sondern auch sich auf allen Arten von Böden frei zu bewegen.

* Die zuvor erwähnten Zeichnungen 20.1 und 20.2 in Peter Goodys „Anatomie des Pferdes" haben nicht nur das Verständnis für die vier typischen Haltungen des gerittenen Pferdes ermöglicht. Sie bilden auch die Grundlage der vorliegenden Analyse der Hinterbeine und ihres Zusammenspiels mit den anderen Funktionen in der Hinterhand des Pferdes. Sie gestatten den Rückschluss, dass es im Lendenbereich einen Kraftschalter gibt, in dem die muskulären Kräfte der Pferdes zusammen wirken. Die Zeichnungen 18.1 und 19.4 (links) bestätigen auch das Vorhandensein eines Ruhepunkts im Sitzplatz des Reiters. All diese Einsichten haben Auge und Gefühl für den equiden Bewegungsablauf und den Platz des Reiters in diesem gestärkt.

Beim Reiten und Forschen kam und kommt es immer wieder zu der Frage, wie der Reiter seine Beine einsetzen soll, um die Hinterbeine des Pferdes zu aktivieren. Soll er seine Waden an die Seiten des Pferdes drücken, seine Oberschenkel schliessen oder sie vielleicht besser öffnen? Soll er den Unterbauch mit seinen Knöcheln berühren oder besser mit den Seiten seiner Absätze (eine Aktion, die, neben bei gesagt, erfordert, dass er seine Absätze zuvor hebt).

Und wie sollen seine Beine das Pferd berühren? Ganz leicht und nur für einen Augenblick oder stärker und für einige Momente? Soll er die Seiten des Pferdes mit Absätzen attackieren? Oder so weit gehen, sie mit Sporen zu bearbeiten? Wie wählt er aus der Vielfalt möglicher Einwirkung die richtige aus? Angesichts der fast unzähligen Arten das Pferd zu treiben, stimme ich Nuno Oliveira, dem portugiesischen Meister des 20. Jahrhunderts, zu, wenn er nahelegt, dass es eine Weile dauern mag, bis der Reiter herausfindet, wie er ein Pferd am effektivsten dazu bringt frei auszuschreiten.

Wenn sich jedoch das Pferd erst einmal mobilisiert, dann tritt ein Szenenwechsel ein. Die Berührung der Reiterbeine wird leichter und die Notwendigkeit Beine überhaupt einzusetzen seltener. Alles scheint also von dieser Mobilisierung abzuhängen…

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II. b. Die Hinterhand/Das Schließen der Kruppe

Das Schließen der Kruppe ist eine Vorwärtsbewegung des Pferdebeckens. Diese Bewegung verbessert die Selbstkontrolle des Pferdes. Sie hebt und stabilisiert die freitragende Wirbelbrücke und mobilisiert den Bewegungsablauf. Das Schließen der Kruppe (auch Schließen der Hinterhand genannt) aktiviert den Bewegungsapparats und befähigt das Pferd, sich ganz für den Reiter einzusetzen.

Einzelheiten zum Becken des Pferdes, dieses zentralen Bestandteils des Kruppeschließens, seien hier zuerst genannt. Das Becken des Pferdes hat die Form eines Gürtels. Von seinem Schloss, welches bildlich gesprochen das Sakralgelenk im höchsten Punkt der Kruppe ist, erstreckt es sich nach rückwärts und abwärts. Seine seitlich weitesten Ausdehnungen sind die Hüftknochen. In seinem unteren Bereich sind in den Hüftgelenke die Hinterbeine mit dem Becken verbunden. Wie zuvor dargelegt, dienen die zwei rückwärtigen Fortsätze des Beckens als Hebel der Kraft den Vorwärts- und Aufwärtsbewegungen des Pferdes. Die Form des Beckens gewährt zudem Raum für das Durchtreten eines Fohlens bei der Geburt.

Dieses funktionale Meisterwerk ist mit zahlreichen kräftigen Bänderplatten versehen. Zwei erstrecken sich vom inneren Beckenrand zu den seitlichen Rändern des Kreuzbeins und sichern so dessen Position im Beckengürtel. Bänderplatten verbinden und stabilisieren auch die lateralen Dornfortsätze der Lendenwirbel.
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Abb.18 Die Lenden- , Hüftgelenks- und Kruppenbänder

Die im unteren Drittel des Beckens gelagerten Hüftgelenke sind die Angelpunkte der Hanken. Sie sind die Rotationspunkte, um welche die Oberschenkel schwingen. Diese Schwingungen sind die Grundlage der ganzen Bandbreite equider Bewegungsabläufe. Die Hüftgelenke werden von weiteren Bändern, innerhalb des Gelenks und in der Form von Kapseln gesichert.
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Abb.19 Das Hüftgelenk des Pferdes, geöffnet

Zwischen Hüftknochen und Hüftgelenken endlich erstrecken sich die starken freitragenden Bänder, die die Basis des Kruppenschlusses sind
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Abb.20 Die Hüftbänder des Pferdes

An ihnen haften dreieckige Bauchmuskeln, die den rückwärtigen Abdomen umspannend zur unteren Mittellinie des Pferdebauchs verlaufen und genau an dessen tiefstem Punkt unter der elften Rippe enden (Abb.24).

Die Verkürzungen dieser großen, dreieckigen, stark von Sehnen durchsetzten Muskelplatten sind es, die das Schließen der Kruppe bewirken. Gleichzeitig verursachen sie das Zusammenschieben des Sakralgelenks. Dieses wiederum bewirkt das mechanische Heben der Lendenwirbel und eine Veränderung in der Innervierung der Hinterhand (Abb.7).

Das Schließen der Kruppe tritt als Resultat eines Reflexes um die elfte Rippe im mittleren Rückenabschnitt des Pferdes auf. Der Leser mag sich an die Position der reiterlichen Oberschenkel genau in der Mitte des unteren Rückenmuskels auf der elften Rippe erinnern. Genau dort kommen auch der vordere und der hintere Teil des umhüllenden Hals-und Rückenmuskels zusammen. Zusätzlich stützt das innere Hinterbein, wenn es unter den Schwerpunkt tritt, den Punkt unterhalb der elften Rippe, an dem der linke und rechte diagonale Bauchmuskel zusammen laufen. Der Gurt des Fahrpferdes und des jungen Pferdes an der Longe folgt dem Verlauf der elften Rippe. Die Knöchel des Jockeys berühren das junge Rennpferd genau an jenem Punkt der elften Rippe, an dem die Oberschenkel des klassischen Reiters den unteren Rückenmuskel und die Schnittstelle des umhüllenden Hals- und Rückenmuskels belasten.

Zusätzlich zu den Bauchmuskulaturen, die den Kruppenschluss bewirken, gibt es weitere ausgedehnte Bauchmuskelplatten, die den Leibesinhalt des Pferdes stützen. In Korrespondenz zum langen Rückenmuskel erstrecken sich zudem vom Sternum zwischen den Vorderbeinen des Pferdes zu den Hüftgelenken der Hinterbeine , zwei langgestreckte Muskelstränge, die man den langen Bauchmuskel nennen könnte.

*Das Pferd setzt das Schließen seiner Kruppe im Freilauf und unter dem Sattel zur Verbesserung seiner Geschicklichkeit und Selbstbeherrschung ein. Gestern Abend noch wurde ich erneut Zeugin dieses Phänomens. Ich hatte die Gelegenheit es in einer Gruppe von Pferden zu beobachten, die mich auf dem Weg an ihrer Wiese entlang gehen sahen. Neugierig kamen sie von der anderen Seite her angelaufen. Auf dem Hang direkt vor meinen Augen schlossen sie – wohl wegen des feuchten Grases unter ihren Hufen – ohne Aufhebens und im Zuge eines Galoppsprungs ihre Kruppen, wechselten spontan zum zweiten Gang und hoben zum Tanz an. Mit wachsenden Begeisterung sah ich wie sich vor meinen Augen ein Pferdeballett formierte, das einer einstudierten menschlichen Tanzchoreographie in nichts nachstand.

Was ich hier im letzten Licht eines späten Abends auf dem flachen Hang einer nassen Pferdewiese zu sehen bekam, war nichts weniger als die volle Entfaltung equider Bewegungsabläufe. Und so wie jedes Pferd seiner eigenen Intuition folgend loslegte oder bremste, absprang und landete, wendete oder auf die Hinterbeine ging, vereinten sich ihre Bewegungen in einer Darbietung von ausserordentlicher Schönheit.

“Wenn wir all dies nur auch unter dem Sattel könnten”, war mein einziger Gedanke.
Später im Sattel erinnerte ich mich. Es ist kein Geheimnis und kein Rätsel. Das gerittene Pferd lernt, das Schließen der Kruppe unter dem Sattel für immer längere Zeit beizubehalten. Es wird gerade und mobilisiert sich. Es gewinnt unter des Reiters Führung Erfahrung im Umgang mit seinen Kräften.
Das Pferd ist mit seinem eigenen Bewegungspotential vom Spielen auf der Wiese wohl vertraut. Es braucht Bewegung nicht zu erlernen. Der moderne Reiter ist es, dem etwas fehlt. Er weiß nicht mehr, wie er die Bewegungen des Pferdes ansprechen kann. Durch Wissen und Erfahrung erst findet er heraus, wie er vom Pferd erlernen kann, was dieses von der ersten Stunde seines Lebens an beherrscht.


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II. c. Die Hinterhand/Das Sakralgelenk

So weit so gut. Von den fünf Vorrichtungen der Hinterhand, die gemeinsam den Bewegungsablauf des Pferdes ausmachen, sind drei besprochen: die Funktionen der Hinterbeine, die Wirkung der Hanken und das Schließen der Kruppe. Zu besprechen bleiben das Sakralgelenk und das Zwerchfell. Das Sakralgelenk wurde schon einige Male erwähnt. Deshalb hier zunächst eine Zusammenfassung und dann Weiteres über seine Aufgabe in der reiterlichen Praxis.

Das Sakralgelenk im höchsten Punkt der Kruppe befindet sich zwischen den zwei oberen Enden des Beckengürtels und besteht aus dem letzten Lendenwirbel und dem ehemals einzelnen ersten Wirbel des Kreuzbeins, L6/S1. Das Kreuzbein des Pferdes ist, ähnlich wie die Schulten den längsten Dornfortsätzen, dem Becken durch Bänder und Muskeln fest verbunden. Bewegungen im Sakralgelenk werden durch die Vorwärtsbewegung des Beckens beim Schließen der Kruppe ausgelöst.

Das Sakralgelenk hat einen kleinen, genau definierten Bewegungsspielraum, durch den es sich nach vorne öffnen und nach hinten schließen kann (Abb.7). Jede noch so kleine Bewegung in diesem Gelenk wirkt sich auf das zentrale Nervensystem und die peripheren Nerven der Hinterbeine aus. Sein Schließen mobilisiert den Bewegungsablauf. Diese Mobilisation ist die Grundlage equider Leistung.

Es gilt dieses Sakralgelenk und seine Wirkungen im reiterlichen Gesamtzusammenhang zu verstehen. Deshalb folgt an dieser Stelle eine Darstellung relevanter begleitender Einzelheiten.

Ähnlich der Verkürzung des Rückenmarkstamms in der menschlichen Wirbelsäule, gibt es eine solche auch im Rückgrat des Pferdes. Durch diese Verkürzung reicht der Rückenmarkstamm im Menschen nur bis zum ersten Lendenwirbel. Das heisst er endet ungefähr in der Mitte des menschlichen Rückens. Die Lenden- und Sakralabschnitte des zentralen Nervensystems finden in den Wirbeln T10-12 ihren Platz, in den Wirbeln der menschlichen Wirbelsäule also, die sich gleich oberhalb des ersten Lendenwirbels befinden. Die Verkürzung des Rückenmarkstamms im Pferd ist vergleichsweise weit weniger ausgeprägt. Durch diese Verkürzung befinden sich die Abschnitte S2/3 des equiden zentralen Nervensystems nicht in der Mitte des Kreuzbeins, sondern genau im Zentrum des Sakralgelenks.

Als Folge dieser Verkürzungen des Rückenmarksstamms in Mensch und Pferd kommt es zu Sammelpunkten, in denen sich die nervlichen Übertragungen zwischen diesen beiden Wesen verdichten. Sammelpunkt in der aufrechten menschlichen Wirbelsäule sind die Brustwirbel T10-12. In ihnen lagern die Abschnitte L1-5 und S1-5 des zentralen Nervensystems. Der Sammelpunkt im horizontalen Rückgrat des Pferdes ist das Sakralgelenk, in dessen Zentrum sich die Nervenabschnitte S2 und S3 befinden.

Zu Letzterem gilt es auf einen bemerkenswerten Zusammenhang hinzuweisen, der deutlich zur Nahtlosigkeit menschlich/equiden Designs aussagt. Im Menschen innervieren die Dermatome S2/3 Gesäß und Beininnenseiten. Dem Pferd stehen im Sakralgelenk jederzeit die Nervenabschnitte S2/3 für eine aktivierende Einwirkung zur Verfügung. Was aber bedeutet das? Es heißt, dass Vorwärts und Leistung, diese ureigensten Bestandteile equider Natur, sowie Gesäß und Beine des Reiters, diese ganz vordergründigen Grundlagen des Reitens, nervlich direkt korrespondieren. Es heisst auch, dass hier wie schon anderswo im Pferd beobachtet, Leistungsfunktionen des Pferdes und Kontrollfunktionen des Reiters in einem Punkt vereint sind.

Wenn sich die Pferdekruppe schließt wird sie flach. Diese Abflachung wird durch das Vorwärts des Pferdes schnell wieder aufgehoben, weil das Abschieben der Hinterbeine das Kreuzbein und den Beckengürtel in ihre Ausgangsposition zurück ziehen. Die Kruppe des Pferdes rundet sich, wenn ein Pferd Wasser lässt oder die Stute Wehen hat. Beides sind stationäre Bewegungen, deren deutliche Kruppenrundung auf ein Öffnen des Sakralgelenks hindeuten. In beiden Fällen stellt das Öffnen des Sakralgelenks keine Gefahr für den Bewegungsapparat des Pferdes dar.

Das Sakralgelenk öffnet sich jedoch zum Schaden des Pferdes, wenn es ohne Schließen der Kruppe geritten wird. Denn ohne das entschiedene Heben des Pferderückens und eine deutliche Verbesserung des Vorwärtsschubs, die beide das Ergebnis des Kruppenschlusses sind, senkt sich die freitragende Wirbelbrücke.
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Abb.21 Der gehobene (oben) und der fallengelassene Rücken (unten)
Ein Öffnen des Sakralgelenks, welches die Funktionstüchtigkeit der Hinterbeine bedroht, ist die Folge
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Abb.22 Das Sakralgelenk in Ausgangsstellung (links) und geöffnet (rechts)

* Die Entfaltung des equiden Bewegungsablaufs hat viel mit stukturellen und nervlichen Vermittlungen im Sakralgelenk zu tun. In dem Maße, in dem das Pferd das Tragen des Reiters kennen lernt, findet es heraus, wie es den Grad des Sakralgelenkschlusses und des Rückenhebens mit dem Beugen der Hanken in Einklang bringen kann. Es lernt, sich im Sakrakgelenk entsprechend der Wünsche des Reiters und bevorstehender Aufgaben auszubalancieren.

Der Reiter setzt die zentrale Schaltstelle seines Rückens, sein Gesäß, Beine und Ringfinger ein, um sich dem Pferd mitzuteilen. Er wirkt, häufig ohne sich dessen bewusst zu sein, auf Grund eines Impulsaustauschs zwischen menschlichen und equiden Nervensystemen auf das Pferd ein. Diese vermitteln dem Pferd die Wünsche des Reiters und informieren ihn über den aktuellen Zustand des Pferdes. Im Rahmen dieses Vorgangs sprechen seine Ringfinger jedoch ein weiteres Kommunikationssystem im Pferd an…

II. d. Die Hinterhand/Das Zwerchfell

Und hier nun der verbleibende Bestandteil der Hinterhand: das Zwerchfell. Mit ihm soll auch der Solarplexus zur Sprache kommen.

Das Zwerchfell ist ein kräftiger, flacher Muskel, der sich durch den ganzen Brustraum des Pferdes erstreckt. Es verläuft von den zwei hinteren Brustwirbeln, T18 und T17, vorwärts-abwärts zum Sternum und ist dort an der neunten Rippe befestigt. Das Zwerchfell trennt den Verdauungs- und Reproduktionstrakt des Pferdes vom Herzen und der Lunge. Es trennt die Vorhand von der Hinterhand.
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Abb.23 Herz, Zwerchfell und der langer Bauchmuskel

Beim Kruppenschluss wird der Verdauungstrakt vorwärts in Richtung des Zwerchfells geschoben und übt auf diese Weise Druck aus. Die Reaktion des Zwerchfells auf diesen Druck und das als direktes mechanisches Resultat des Kruppenschlusses entstehende Heben des Pferderückens haben eine Wirkung auf den Solarplexus. Diese Wirkung charakterisiert des Pferdes Leichtigkeit.

Der Solarplexus ist ein Bündel autonomer Nerven, dass im Menschen direkt unter dem Zwerchfell zwischen Magen und Wirbelsäule gelagert ist. Es schlingt sich im Übergangsbereich des obersten Lendenwirbels zum untersten Brustwirbel um die Aorta und befindet sich also in genau in der Gegend des Körpers, von der auch des Reiters zentrale Schaltstelle wirkt.

Im Pferd befindet sich der Solarplexus unmittelbar hinter dem Zwerchfell zwischen Magen und Rückgrat. Er korrespondiert mit den Abschnitten des zentralen Nervensystems T16/17, die sich mittig zwischen T9, dem ersten Wirbel des flexiblen mittleren Rückenabschnitts und dem Sakralgelenk befindet; der Mitte des Abschnitts der freitragenden Wirbelbrücke also, der sich beim Schließen der Kruppe hebt.

Das Zwerchfell ist der Hauptatmungsmuskel. Im Menschen steigt es von der neunten Rippe auf wie ein Dom. Dieser ‘Motor des Atems’ wird vom sogenannten phrenischen Nerv innerviert, der im Menschen vom Zwerchfell zu den Halswirbeln C5/6 verläuft. Im Pferd verläuft er vom Zwerchfell zu den Wirbeln C5/6 des unteren Halses. Die Haltungen des Halses und die Spannung des Zwerchfells stehen durch den phrenischen Nerv in einer näher zu untersuchenden Wechselwirkung.

* Hier nun stellt sich die Frage, ob es auch zwischen Zwerchfell und Solarplexus eine Wechselwirkung gibt. Vor einigen Jahren stellte ich fast zufällig eine erstaunliche Verbesserung meines Selbstbewußtseins an mir fest, die das Resultat eines schlichten Hebens des Brustkorbs war. Ohne diesen Gedanken zunächst weiter zu vertiefen, schrieb ich diese Wirkung spontan Zwerchfell und Solarplexus zu.

Erst im Mai 2006 begann ich, mich systematisch mit den Bewegungen meiner Wirbelsäule, ihrer Reflexe und deren Auswirkungen auf Schultern, Rippen und Kreuzbein zu beschäftigen. Dabei ging ich von der Information aus, die das Skelett des Pferdes vermittelt, von der Vermutung nervlicher Übertragungen und struktureller Parallelen zwischen Mensch und Pferd und davon, dass möglicherweise ähnliche oder vielleicht sogar identische physiologische Faktoren die Bewegungungen dieser zwei so verschiedenen Wesen regeln.

Zu Beginn dieser Untersuchungen konzentrierte ich mich auf das Heben des zweiten Halswirbels, C2. Der Grund, gerade diese Übung als ersten Forschungsgegenstand der Physiologie des Reitens zu wählen, war die zentrale Rolle, die der zweite Halswirbel in den Haltungen des Pferdes spielt. In einer Doppelfunktion ist er, als Umlenker des langen Bandes und muskulärer Anker für das Heben der Vorhand für die Aufwärtsbewegung des equiden Bewegungsablaufs zuständig. Als weitere Übung kam das systematische Zurücklehnen der Wirbel C7 und T1 im Zusammenspiel mit dem Heben des zweiten Halswirbels hinzu, welches sich – so die Idee - natürlich auch auf den Nervenabschnitt C8 zwischen diesen beiden Wirbeln auswirken würde.

Schnell stellte sich heraus, dass die Kombination dieser beiden Übungen eine Reorientierung der menschlichen Wirbelsäule um L1 veranlasst. Sie bewirkt ein automatisches Schließen der Schultern. Im unteren Rumpf lässt sie das Kreuzbein nach vorne schwingen und bringt damit das Becken ins Gleichgewicht. Die Ellenbogen und Hüften bewegen sich dadurch quasi aufeinander zu. Der Leser wird unschwer erkennen, dass all diese Anpassungen im Skelett des Menschen typisch für die Haltungen des Reiters sind. Es sei erwähnt, dass sie auch die Ausgangsstellung des Tai Chi charakterisieren.

Das Pferd neigt dazu, diese Veränderung in der Wirbelsäule seines Reiters nachzuahmen. Sie sprechen das Heben des zweiten Wirbels im oberen Hals des Pferdes und das Senken des Kreuzbeins an. Eine im Sakralgelenk entstehende Verbesserung der Innervierung aktiviert die Hanken. Das Anheben des zweiten Halswirbels hebt die Halsbasis und bewirkt in Korrespondenz mit der Aktivierung der Hanken das Heben der Vorhand. Das Pferd mobilisiert sich und wechselt in den zweiten Gang.

Dieser komplexe Ablauf ist die equide Reaktion auf die zwei genannten, nur minimalen Veränderungen der reiterlichen Haltung: dem Heben des zweiten Halswirbels und dem Zurücklehnen von C8. Reiten ist Bewegung in der nicht selten Geschwindigkeit und Gleichgewicht die Hauptrollen spielen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass des Reiters eingeborene Anleitungen an sein Pferd unkompliziert und offensichtlich sind. Wie sonst könnte er das Pferd sicher, schnell und eindeutig anweisen?

III. a. Der Bewegungsablauf/Das Pferd bei der Arbeit

Was bisher als die Elemente der Reiterei erschien, wird nun in Bewegung zu sehen sein.

Im modernen Pferd lassen sich zwei Formen der Bewegung beobachten: Sprints und schnelle Wendungen eines freilaufenden Pferdes und die gleichförmige Vorwärtbewegung eines Pferdes ‘bei der Arbeit’. Ersteres umfasst Tempo- und Richtungswechsel, letzteres ein konstantes Tempo und nur eine Richtung, die Vorwärtsrichtung nämlich.

Eine solch klare Trennung der equiden Bewegungsformen gab es nicht immer. Im Krieg, im Umgang mit Rindern und Schafen und im Reisen über unübersichtliches Terrain setzte das Pferd wenigstens zwei lokomotive Fähigkeiten ein. Es ging gleichmäßig vorwärts und bewegte sich wenn nötig in lateralen Richtungen. In Gefechtssituationen war es sogar in der Lage rückwärts auszuweichen.

Der Anlass für das heute fast ausschließliche Vorwärts des Pferdes war das schnellere, kraftvollere Pferd, welches in England seit dem 18. Jahrhundert in Reaktion auf die Entdeckung der Geschwindigkeit gezüchtet wurde. Dieses neue Pferd wurde im 19. und 20. Jahrhundert weltweit zur Veredlung bestehender Zuchten eingesetzt und hat diese genetisch in vielen Fällen bis zum point of no return verändert. Eine neue Genetik und ein neues Selbstverständnis sind die Gründe für das, was heute zählt: Vorwärts.

Eine unerwartete Zugabe zur Geschwindigkeit und Kraft dieses neuen Pferdes war sein Sprungvermögen. Die zunächst unerkannte Fähigkeit, selbst Sprünge über die eigene Körpergröße hinaus zu bewerkstelligen, wurde von dem zuvor erwähnten F. Caprilli erst im späten 19. Jahrhundert entdeckt. Und interessanterweise ist Springen für dieses neue rechteckige Pferd die geeignetste Bewegungsart. Sie erleichtert den von der Schiefe im flexiblen mittleren Rückenabschnitt des Pferdes erzeugten Stress.

Heute setzen Springpferde die equide Doppelbegabung Geschwindigkeit und Beweglichkeit beim Springen anspruchsvoller Parcours in kleinen Arenen ein. Diese originellen Begabungen des Pferdes sind hierbei jedoch zu einem Zerrbild der Reiterei verkommen. Das Pferd bewältigt den Parcour als Resultat eines mechanisch-repetitiven Trainingsansatzes. Seine Beweglichkeit ist nicht mehr Resultat direkter nervlicher Übertragungen des Reiters, sondern Ergebnis seines Wissens um den nächsten Sprung, den zu nehmen es gilt.

Geschätzte neunzig Prozent aller Pferde gehen heute ausschließlich vorwärts. Von den verbleibenden zehn setzen nur geschätzte ein Prozent die volle Bandbreite equider lokomotiver Fähigkeiten ein. Es sind dieses die wenigen, wahrhaftig klassisch ausgebildeten Reitpferde. Daraus folgt, dass jeder, der heute die lokomotiven Fähigkeiten des Pferd beobachten möchte, auf die Informationen zurückgreifen wird, die das Bewegungspotential des Pferdes im Freilauf liefert.

Genau deshalb habe ich, anfangs durchaus ohne festes Ziel, viele Stunden meines Lebens damit zugebracht Pferde zu beobachten. Ich habe mir genau angesehen, wie sie sich, miteinander spielend und auf ständig verändernde Wetter- und Bodenverhältnisse reagierend, auf den Wiesen und in den Ausläufen bewegen. Ich habe aufmerksam registriert, wie sie unter dem Sattel ihr Gleichgewicht und ihre Haltungen verändern. Und ich habe ihre Wechselwirkung mit den Haltungen und Einwirkungen des Reiters studiert.

Diese Beobachtungen bilden die Grundlage meiner Arbeit. Und doch dauerte es Jahre, bis ich die folgenden Fragen formulieren konnte. Heute halte ich sie für den unabdingbaren Ausgangspunkt jeder Erforschung des Reitpferdes und seiner Leistungen.

- Aus welchem Repertoire an Haltungen und Gleichgewichtsformen bedient ein Pferd sich, wenn es seinen eigenen Zielen und Beweggründen folgt?

- Was charakterisiert diese einzelnen Haltungen und Gleichgewichtsformen?

- Wie erzeugt das Pferd die kraftvollen, fast übernatürlich erscheinenden Gangarten, Wendungen und Sprünge, die es so häufig auf der Weide ausführt?

- Warum bietet das Pferd diese vollkommenen Bewegungen dem Reiter nicht an? Und wenn, warum hätte der Reiter wahrscheinlich Angst vor eben diesem Bewegungspotential?

III. b. Der Bewegungsablauf/Das Pferd in der Freiheit

Und hier nun der Schlüssel zur Bewegung des Pferdes.

Wenn man Pferde betrachtet, die sich frei und auf eigene Faust bewegen, kann man nicht anders, als folgende Beobachtungen machen.

1. Sie nehmen selten, wenn überhaupt das horizontale Gleichgewicht und die Dehnungshaltung ein, die in der Ausbildung der Pferde heute so beliebt sind.

2. Nur in kurzen Augenblicken erhöhter Konzentration, Anstregung und/oder Aufregung schließen sie das Genick.

3. Bei der Bewältigung von Schwierigkeiten, wie tiefen Böden oder schnellen Wendungen, senken sie niemals die Halsbasis, sondern - ganz im Gegenteil - heben diese.

4. Zur Bewältigung tiefer Böden und schneller Wendungen schließen sie die Kruppe und gehen in den zweiten Gang. Dasselbe tun sie um sich über der Erde zu tummeln.

5. Sie wechseln von geöffneter zu geschlossener Kruppe ohne erkennbare Unterbrechung des Bewegungsablaufs.

6. Sie scheinen sich zu jeder Zeit darüber im Klaren zu sein, wie stark sie das Genick beugen und/oder das Kreuzbein senken müssen. In anderen Worten, sie wissen ganz genau, wieviel Druck sie auf das lange Band von vorne oder von hinten ausüben müssen, um einen bestimmten Coup landen zu können.

7. Sie kommen nie aus dem Takt, verlieren nie den Grund unter den Hufen und lassen nie auch nur einen Tritt aus, selbst auf den unebensten Böden.

Beobachtet man diese schier unglaubliche Bewegungsqualität selbst eines eher mittelmäßigen Pferdes im Freilauf, drängt sich die Frage auf, warum das Pferd, welches auf sich selbst gestellt mit einer solch vorzüglichen Leistung aufwartet, unter dem Reiter Schwierigkeiten haben sollte.

III. c. Der Bewegungsablauf/Die Leistungen des Pferdes

Nach den vorausgegangenen Ausführungen und bevor wir uns weiteren Einzelheiten der Elemente der Reiterei zuwenden, möchte ich an dieser Stelle ein Ideal, nein - das Ideal der Reiterei vorstellen. Erst zusammen mit den im nächsten Kapitel präsentierten Zusammenhängen jedoch, wird der Wert dieser Idee seine volle Bedeutung erlangen.

Jeder, der wiederholt die Möglichkeit hat Pferde im Freilauf zu beobachten, wird meinem Vorschlag zustimmen, dass die Ausbildung eines Pferdes aus nur drei einfachen Schritten besteht.

1. das Gewinnen seines Vertrauens

2. die Anwendung einer Körpersprache, die das Pferd spontan versteht und

3. die regelmäßige Ausbildung, die die muskuläre Fitness des Pferdes sicherstellt

Die Wahl der Haltungen, des Gleichgewichts und der Leistungen, wie auch alle anderen, die Körperlichkeit betreffenden Einzelheiten können dabei getrost dem Pferd selbst überlassen werden. Es wird sich, wie von höherer Hand gesteuert, entsprechend einer inneren Logik automatisch zum zweiten Gang hin entwickeln.

In dieser Entwicklung gibt jedoch ‘Sand im Getriebe’. Der potentielle Störfaktor ist des Pferdes Schiefe, die in manchen Fällen von der Schiefe des Reiters noch übertroffen wird.

Die Schiefe überwinden ist Teil reiterlicher Praxis. Es gibt dazu viele Überlegungen und Anweisung. Auch für uns im Study-Horsemanship sind des Pferdes und des Reiters Schiefe ein fortlaufender Forschungsbestandteil. Immer wieder stellt sich dabei heraus, dass bewährte klassische Traditionen der Geraderichtung durchaus wirksam sind. Häufig nicht ausreichend ist jedoch die Reiterschulung. Bei dieser geht es in vielen Fällen zunächst um Selbsterkenntnis. Ein Mensch, der sich seiner Fehlhaltungen und Schiefen nicht bewusst ist, wird das Thema seiner eigenen Auf- und Geraderichtung nicht ins Auge fassen. Auch deshalb ist die Suche nach verlässlichen Parametern einer aufrechten Wirbelsäule und vollkommener Gleichseitigkeit ein Hauptaspekt derzeitiger Untersuchungen.

Die im jungen Pferd manchmal noch fehlende Unterordnung erweist sich schnell als problemlos, weil physiologische Faktoren, wie das Treten des inneren Hinterbeins unter den Schwerpunkt und die damit einhergehenden Veränderungen in den Nervensystemen des Pferdes, diese Unterordnung anordnen.

Die Erfahrung bestätigt, dass bei Pferden, die entsprechend dieser Vorstellungen ausgebildet werden folgendes zutrifft:

- Sie nehmen zunächst die Reisehaltung ein und machen gute Fortschritte, wenn sie den Kopf frei tragen und das Genick ihren Stimmungen, den Bodenverhältnissen und den geforderten Leistungen entsprechend öffnen oder schließen dürfen.

- Sie wechseln nur dann in die Dehnungshaltung, wenn sie in ununterbrochener Vorwärtsbewegung müde werden. Dann senken sie ihren Kopf und strecken die Halsbasis, um den Stress der Rückenmuskeln zu erleichtern.

- Sie werden in der Arbeitshaltung schnell geschmeidig und können bald alle Arten von Figuren und Gangarten ausführen.

Haben solchermaßen behandelte Pferde den Stress des Geritten- und des Geradewerdens erst einmal überwunden, entdecken sie die ihnen innewohnenden Fähigkeiten wieder und möchten diese gemäß des ihnen innewohnenden Temperaments mit voller Kraft einsetzen. Sie wechseln dazu in die Leistungshaltung, heben Halsbasis und Vorhand und gehen in den zweiten Gang.

Dieser zweite Gang ist im Pferd angelegt und in seiner Physiologie deutlich nachvollziehbar. Er versetzt das Pferd in einen quasi überirdischen Zustand, der ihm dazu verhilft, zusehens die kraftvollen Bewegungsabläufe, Wendungen und Sprünge des Freilaufs nun auch im Dienste des Reiters und unter dessen vollen Kontrolle auszuführen.

Beim Schreiben dieses Absatzes steigt in mir Begeisterung auf. Sie wird durch die bleibende Erinnerung einer Reiterin ausgelöst, die das leichte Pferd und den zweiten Gang kennengelernt hat. Das Wunder daran ist, dass des Pferdes Leichtigkeit im Körper und Geist des Reiters eine korrespondierende Leichtigkeit auslöst...

III. d. Gleichgewicht, Haltung und Gang

Wenden wir uns noch einmal der Beobachtung des Bewegungsablaufs zu. Eine schrittweise, allen Aspekten Rechnung tragende Beschreibung wird es ermöglichen die Bewegung des Pferdes zu verstehen. Eine solche Darstellung lässt auch die Rolle des Nervensystems in der Reiterei verständlicher werden.

Das freilaufende Pferd bewegt sich im natürlichen Gleichgewicht. In diesem wechselt es zügig zwischen offener und geschlossener Kruppe. In diesem Gleichgewicht bewältigt es die Anforderungen seines täglichen Lebens, wie zum Beispiel unterschiedlichste Böden. In diesem natürlichen Gleichgewicht verleiht es auch seinen Stimmungen Ausdruck.
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Abb.24 Der Kruppen schliessende Bauchmuskel des Pferdes

Unter dem Sattel wird aus dem natürlichen zunächst das horizontale Gleichgewicht. Dieses ist durch ein beständiges Schließen der Kruppe gekennzeichnet. Zum Zwecke der Eindeutigkeit und Abgrenzung vom zweiten Gang bezeichne ich das horizontale Gleichgewicht auch als ersten Gang.

Die Kruppe des Pferdes schliesst sich in Reaktion auf das Gewicht des Reiters und den Druck der reiterlichen Oberschenkel auf die obere elfte Rippe. Das Pferd gewinnt unter dem Reiter im ersten Gang Erfahrung mit dem Schließen des Sakralgelenks und dem Heben des Rückens. Dabei achtet der Reiter auf die Erhaltung der Leichtigkeit und auf des Pferdes Bewegungsfreude.

Der Reiter bedient sich dieses ersten Ganges auch um das Pferd geradezurichten. Zu diesem Zweck verteilt er das Gewicht des Pferdes gleichmäßig auf alle vier Beine und reitet es vorwärts. Der beständige Kruppenschluss garantiert das fortgesetzte Heben der freitragenden Wirbelbrücke. Dabei unterstützen die unter den Schwerpunkt tretenden Hinterbeine die Masse des Pferdes. Das Senken des Kreuzbeins und die zunehmende Elastizität der Hanken bereiten das Pferd auf den zweiten Gang vor.

Aufgrund der Geraderichtung im ersten Ganges entdeckt das Pferd seine Befähigung zum zweiten Gang auch unter dem Sattel wieder. Es kennt den zweiten Gang nur zu gut von den vielen, wenn auch immer nur kurzen Momenten erhöhter Erregung und an sich selbst gestellter Aufgaben im Freilauf auf der Wiese. Und - unter dem Reiter erkennt es nun eine neue Möglichkeit. Es merkt nämlich, dass es mittels eines ständigen Drucks auf das lange Band und eines fortgesetzten Einsatzes des zweiten Halswirbels den zweiten Gang immer länger beibehalten kann.

Die ununterbrochene Spannung des langen Bandes spricht die Muskulaturen der Leistungshaltung in des Pferdes Oberlinie an. Mit ihr verbesserte sich die Innervation der Hinterbeine im Sakralgelenk. Die genannten Faktoren bezeichnen die Hochleistung. Sie gehen mit der für den zweiten Gang typischen Verbessererung der Mobilität und Selbstkontrolle einher und bewirken eine Veränderung in der inneren Haltung des Pferdes, die auch seine Einstellung zum Reiter verwandelt.

An dieser Stelle scheint mir eine Definition und Abgrenzung der Begriffe Gang und Haltung angebracht. Sie sind Ausdruck zweier verschiedener physiologischer Funktionen:

- Der Begriff Gang bezieht sich auf die Innervierung des Pferdes. Diese wird durch den Einsatz des langen Bandes, und jenes andere schon genannte Kommunikationssystems im Pferd reguliert, welches wir noch genauer betrachten werden.

- Der Begriff Haltung kennzeichnet die muskuläre Tätigkeit des Pferdes. Denn jede einzelne Haltung, die Reise-, Dehnungs-, Arbeits- und Leistungshaltung, ist typisch für den vermehrten Einsatz klar unterschiedener Muskelgruppen.

Zum Übergang zwischen Haltungen und Gängen lässt sich Folgendes sagen: Reise- und Leistungshaltung eignen sich für den Wechsel zum zweiten Gang. Auch aus der Arbeitshaltung kann das Pferd in den zweiten Gang gehen, jedoch nur, wenn es Kopf und Hals frei tragen darf. Die Dehnungshaltung eignet sich nicht für den zweiten Gang. Der für diese Haltung typische gesenkte Kopf und seine Tendenz vorwärts-abwärts verhindern den zweiten Gang. Gleiches gilt auch für die im modernen Reitsport weit verbreitete Zwangshaltung mit der typischen Überbiegung von Hals und Genick.

Dieses also sind in aller Kürze die Veränderungen, die im Körper des Pferdes beim Wechsel vom natürlichen zum horizontalen Gleichgewicht und vom ersten zum zweiten Gang vor sich gehen. Sie betreffen Skelett und Nerven und zeugen von einem Kraftzuwachs. Aber das ist nicht alles. Diese Veränderungen hinterlassen auch einen tiefen Eindruck auf des Pferdes Psyche.

Ähnlich einem Kinde, welches mit dem Erlernen des Lesens und Schreibens seine intellektuellen Fähigkeiten entdeckt und in den Raum der Kultur tritt, erlebt auch das Pferd einen Wandel der Sphären. Wenn es sich unter dem Sattel gerade richtet und den zweiten Gang entdeckt, erlernt es die uneingeschränkte Kontrolle seiner eigenen Kräfte. Dieses erfährt das Pferd nicht draußen in der freien Natur, alleine und auf sich selbst gestellt, sondern unter Kontrolle und Anleitung des Reiters. Der Reiter führt es von der Natur zur Kultur. Das Pferd reagiert auf diesen Wandel und auf den, der ihn bewirkt, mit den Emotionen einer ersten großen Liebe.

IV. a. Nerven/Die drei Systeme

Eine Darstellung des equiden Bewegungsapparats ist nur vollständig, wenn man ein weiteres Thema mit einbezieht: Die verschiedenen Nervensysteme des Pferdes.

Mensch und Pferd gehören der Spezies Säugetier an. Die Funktionen dieser Spezies beruhen auf dem sensorisch-motorischen System, welches im Gehirn gleich unter der Schädeldecke beginnt und quasi als innerer Stamm des zentralen Nervensystems im Rückenmark verläuft.

Gehirn und Rückenmark befinden sich in den Knochenstrukturen des Schädels und der Wirbelsäule und werden durch sie geschützt. Sie sind von einer aus drei Lagen bestehenden Haut, der Dura mater, umhüllt. Eine zirkulierende Nährflüssigkeit in der Dura mater sorgt für weiteren Schutz.

Die Nervensysteme der Säugetiere bestehen aus sensorischen und motorischen Fasern. Erstere übermitteln sensorische Eindrücke vom Körper an das zentrale Nervensystem. Letztere vermitteln motorische Anweisungen vom zentralen Nervensystem an den Körper. Ebenso fließen Nervenimpulse auch zwischen den Nervensystemen der Säugetiere. Diese sind, zusätzlich zum zentralen das autonome Nervensystem, welches die Organfunktionen steuert, und das periphäre Nervensystem, welches Sinnesorgane, Rumpf, Glieder und die Haut innervieren.

Die prominentesten periphären Nerven werden am vorderen und hinteren Ende der freitragenden Wirbelbrücke des Pferdes und entsprechend am oberen und unteren Ende der menschlichen Wirbelsäule in Nervenbündeln, sogenannten Plexi, gesammelt. In diesen Bündeln mischen sich ihre Fasern. Die so entstehenden neuen Faserkombinationen erstrecken sich entsprechend der unzähligen Nervenfunktionen, derer es bedarf, um den Willen eines Lebewesen auszuführen, bis in des Körpers äußerste Enden.

Das autonome Nervensystem bestimmt die Aktivitäten der Organe und unterstützt so die Anweisungen des Willens, ohne jedoch selbst dem Willen zu unterstehen. Es besteht aus motorischen Fasern, die in der Regel in den Wänden der großen Blutgefässe zu den Organen verlaufen. Zwei Komponenten des autonomen Nervensystems, der Sympathikus und der Parasympathikus, teilen sich die Aufgabe, die Tätigkeiten des Herz- und Lungentrakts sowie der Verdauungs- und Geschlechtsorgane zu regulieren. Sie wirken auch auf die Drüsensysteme ein.

Im Rahmen dieser Regelung übernimmt der Sympathikus das Hochfahren der Energie. Der Parasympathikus fährt die Energie herunter und ist für die Entgiftung des Körpers und die Erneuerung seiner Kräfte zuständig. Während der Parasympathikus außerhalb und parallel zur Wirbelsäule verläuft und dem zentralen Nervensystem nur im Genick und im Kreuzbein verbunden ist, ist der Sympathikus dem zentralen Nervensystem vom oberen Halswirbel (C1) bis zum Kraftzentrum (L4) in jedem einzelnen Nervenabschnitt verbunden. Im Brustbereich verläuft er von T3 bis T18 zudem in einem doppelten Strang.

Macht man sich klar, dass jedes Säugetier (also der Mensch ebenso wie das Pferd) von nicht einem, sondern drei Nervensystemen innerviert wird, so lässt sich unschwer vermuten, dass alle drei auch beim Reiten eine Rolle spielen. Und genau so ist es.

IV. b. Das autonome Nervensystem

So weit also zur Darstellung der Nervensysteme im Säugetier. Der folgende Abschnitt mag wie ein Themenwechsel erscheinen, ist es aber nicht. Er befasst sich mit den Einzelheiten des schon angedeuteten zweiten Kommunikationssystems im Pferdekörper und dessen Bezug zum autonomen Nervensystem. Anschließend werden in den letzten zwei Kapiteln dieser Studie das zentrale und das periphäre Nervensystem sowie ihre Auswirkungen auf die Reiterei weiter beleuchtet.

Zur Darstellung der Rolle des autonomen Nervensystems in der Reiterei beginne ich mit einigen Beobachtungen, deren Bedeutung sich mir selbst erst nach Jahren der Unsicherheit erschlossen haben, wie denn nun mit der Hand des Reiters umzugehen sei, damit das Pferd sie spontan verstehen kann.

Haben Sie je die Veränderung wahrgenommen, die in einem jungen Pferd vor sich geht, wenn es beginnt sich voll und ganz für den Reiter einzusetzen? Sein Gesicht drückt Erstaunen, Zustimmung, ja Wohlbefinden aus. Es scheint nicht mehr die Welt um sich herum wahrzunehmen, sondern in sich selbst hineinzuschauen, als konzentriere es sich auf etwas dort, in seinem Inneren.

Haben Sie je das unvermeidliche Abtauchen des jungen Pferdes beobachtet, welches es vornimmt, um die Seite seiner Nase genüsslich am geschwind und eigens hierfür vorgesetzten Vorderbein zu reiben?

Haben Sie je bemerkt, wie schnell das junge Pferd sich in seine Arbeit fügt? Wie rasch es ununterbrochen Runde um Runde in der Reitbahn zieht? Wie es in wohl regulierten Tritten für immer längere Reprisen fleißig ausschreitet, nachdem es doch auf der Wiese aufgewachsen ist und sich dort nur in gelegentlichen, spielerischen Spurts bewegt hat?

Erst als ich im schon erwähnten Buch John Goodys ‘Die Anatomie des Pferdes’ zum ersten Mal auf eine Darstellung autonomer Nerven im Pferd stieß, beschlich mich eine Ahnung, dass die genannten Phänomene tatsächlich auf einer gemeinsamen Grundlage beruhen.

Um es kurz zu machen, alles deutet darauf hin, dass Dank des Parasympathikus des Reiters Ringfinger direkt auf des Pferdes Kreuzbein einwirkt. Und das nicht, ohne auf dem Weg dorthin Einfluss auszuüben. Rein strukturell ist dieser Einfluss nur auf Grund von Gebiss und Zügeln möglich. Im Pferd beruht er auf der Gestalt und Wirkungsweise des Parasympathikus. Noch einmal zur Erinnerung, der Parasympathikus ist als Gegenspieler des Sympathikus für Ruhe und Erneuerung der Kräfte zuständig. Er verläuft vom Genick zum Kreuzbein und im Pferdekopf bis ungefähr zur Höhe des Nasenriemens. Im Kreuzbein verbindet er sich mit vier Abschnitten des zentralen Nervensystems, den Abschnitten S1-4.

Der Leser wird diesen Rückschluss verstehen, wenn er sich die zu Grunde liegenden Zusammenhänge der Physiologie noch einmal vor Augen führt. Lassen Sie mich deshalb als allererstes noch einmal die Nervenabschnitte S2 und S3 erwähnen, die beim Reiter das Gesäß und die Innenseiten der Beine und beim Pferd die Hinterbeine innervieren. Zu genau diesen nämlich, sowie zu den umgebenden Nervenabschnitten, nimmt der Parasympathikus im Sakralgelenk des Pferdes Kontakt auf.

Nervenfasern des Sympathikus und des Parasympathikus mischen sich in mehreren Nervenbündeln. Zwei dieser Bündel befinden sich in der Gegend des letzten Brust- und des ersten Lendenwirbels zwischen Magen und Rückgrat. Sie entsprechen denen, die im Menschen Solarplexus genannt werden. Dann gibt es einen Plexus in der Nähe des Kraftzentrums an L4, der einen Bezug zu den Reproduktionsorganen des Pferdes hat und ein weiteres Nervenbündel, den Pelvisplexus, der auf das Beckenzwerchfell einwirkt, welches durch sein Nachgeben das Heben der Schweifrübe bewirkt.

Der Reiter wirkt mir seinen Ringfingern auf das Pferd ein. Nicht überraschend, mag man hinzufügen, wenn meine Vermutung zutrifft. Seine Ringfinger teilen sich dem Solarplexus, einem weiteren Plexus, der die Kraftzentrale des Pferdes anspricht und dem Pelvisplexus in der Kruppe des Pferdes mit, bevor sie genau jene Nervenabschnitte kontaktieren, die die Hinterbeine des Pferdes innervieren. Genau diese korrespondieren, wie schon gezeigt, auch mit des Reiters Gesäß und seinen Beinen. Und als sein dies nicht genug: Die Impulsübertragung der Nervenabschnitte S2/3 zwschen den Hinterbeine des Pferde und dem Gesäß sowie den Beinen des Reiters öffnet sich im Sakralgelenk auch der Wirkung des reiterlichen Ringfingers.

Darf ich den Leser noch einmal an die drei Hinweise zu Beginn dieses Abschnittes erinnern. Was sie bedeuten erscheint nun in klarem Licht. Sie bezeugen die Überraschung des Pferdes angesichts der Einflussnahme des Reiters auf sein Allerinnerstes. Sie weisen darauf hin, dass der Parasysmpathikus auch das Maul des Pferdes innerviert und sie illustrieren die allereigenste Fähigkeit des Parasympatikus, die Kräfte des Pferdes fortlaufend zu erneuern und die Beständigkeit des equiden Bewegungsablaufs zu erhalten.

Eine solch köstliche und wertvolle Möglichkeit des Reiters auf das Pferd Einfluss zu nehmen fordert einen entsprechenden Zugang, mag sich der Leser denken. Und so ist es auch. Es stellt sich nämlich heraus, dass das Pferd nicht auf Gedeih und Verderb der Hand des Reiters ausgeliefert ist. Es kann den Zugang zu seinem Allerinnersten verschließen. Denn zwischen des Reiters Hand und dem Parasympathikus des Pferdes befindet sich der Unterkiefer des Pferdes, der, wenn das Pferd es so will, fest verschlossen bleibt.

Der Kiefer des Pferdes wird von kraftvollen Muskeln zum Aufschließen der Nahrung eingesetzt. Er ist am Kopf in zwei einfachen Gelenken direkt unter des Pferdes Ohren aufgehängt. Ohne dass es einer weiteren Erklärung bedarf, ist klar, dass für Wohlbefinden und Erhaltung eines jeden Säugetieres der Unterkiefer eine entscheidende Rolle spielt.

Der Unterkiefer, aber auch die Zunge haben eine wichtige Funktion beim Reiten. Die klassische französische Reiterei stellt einen Bezug der Zungenbewegungen zum Sympathikus und einen Bezug des Parasympathikus zu den Bewegungen des Kiefers her. Und richtig, der Kiefer regelt nicht nur die Wechselwirkungen des reiterlichen Ringfingers auf das Kreuzbein. Er reflektiert auch die Wirkungen des Sypmathikus, wie zum Beispiel das Hochfahren der Energie, welches sich im schäumenden Maul des Pferdes anzeigt.

Die Einwirkung des Reiters auf Kiefer und/oder Zunge des Pferdes beruht jedoch auf einem weiteren Aspekt. Sie ist auch auf die Anlehnung des Pferdes an die Hand des Reiters angewiesen. Diese Anlehnung wählt das Pferd. Es kann sich für oder gegen sie entscheiden. Das Pferd bewahrt sich damit einen weiteren Schlüssel zur wundersamen Einwirkung des Reiters auf sein Allerinnerstes.

IV. c. Das zentrale Nervensystem

Das zentrale Nervensystem und mehr noch dessen Kern, das sensorisch-motorische System, ist das Zentrum des Lebens. Von ihm fließen motorische Impulse zum Körper. Zu ihm kehren sensorische Impulse vom Körper zurück. Diese Impulse regeln die Bewegungen des Lebewesens. Sie implementieren seine Absichten.

Richtig, nicht alle der genannten Impulse erreichen das Gehirn, noch bedürfen sie genau genommen dessen Beteiligung. Viele Impulse schließen sich im zentralen Nervensystem kurz und regeln Bewegung in Reaktion auf die Absichten eigenständig. Ein einfaches Beispiel mag dies erläutern: Wenn Sie sich vom Stuhl erheben um zum Fenster zu gehen, setzen Sie selten Ihr Gehirn zur Ausführung dieses Vorgangs ein. Im Gegenteil, Sie stehen auf und laufen los. Diese Kurzschlüsse oder Reflexe sind es, die auch das Reiten ausmachen.

In anderen Worten, das Pferd liest die Absichten des Reiters und führt diese in einer klar angelegten Arbeitsteilung aus. In der Arbeitsteilung des Reitens sitzt der Reiter und setzt seine sensorischen Fähigkeiten ein. Das Pferd setzt seine motorischen Fähigkeiten ein und bewegt sich.

Im Rahmen dieser Arbeitsteilung sei auf drei bemerkenswerte, strukturelle Faktoren verwiesen. Es sind dies die Harmonie der ganz unterschiedlichen equiden und humanen Knochenstrukturen, die Verkürzung der zentralen Nervensysteme und deren Auswirkungen auf die Verteilung der periphären Nerven, sowie die Innervierung der Haut in merkwürdigen Streifen, den Dermatomen.

Während die Nerven in Mensch und Pferd im Prinzip deutliche Parallellen aufweisen, zeigen sich im Skelettbau wesentliche Unterschiede. Das Pferd bewegt sich auf vier Beinen. Der größte Teil seines Rückgrats, die freitragende Wirbelbrücke nämlich, befindet sich in horizontaler Stellung. Die S-förmige Halswirbelsäule trägt den Kopf mit seinen Sinnesorganen. Sie erlaubt dem Pferd auch den Kopf zu senken. Ein strukturell und nervlich genau definiertes Sakralgelenk ist Grundlage seiner motorischen Leistungen.

Der Mensch bewegt sich auf zwei Beinen. Seine Wirbelsäule ist aufrecht. Sie wird von unten vom Kreuzbein unterstützt und kann sich biegen und drehen. Auf ihrem oberen Ende ruht der Kopf mit seinen Sinnesorganen.

Aus der Gestalt der aufrechten Wirbelsäule des Menschen und dem vielförmigen Rückgrat des Pferdes ergeben sich stark abweichende Bewegungsabläufe. Und doch harmonieren die Haltungen des zweibeinigen Menschen und des vierbeinigen Pferdes verblüffend genau. Gleiches gilt für die Verteilung ihrer Dermatome, beziehungsweise der Wurzeln ihrer periphären Nerven.

Die starke Verkürzung des zentralen Nervensystems im Menschen, das nur bis zum obersten Lendenwirbel (L1) reicht, bewirkt eine Verteilung der periphären Nerven, die auf den ersten Blick merkwürdig erscheint. Eigentlich, so würde man erwarten, sollte jedes dieser Nervenpaare des zentralen Nervensystems die Wirbelsäule an genau korrespondieren Ausgängen zwischen den Wirbeln verlassen, so wie es zum Beispiel im Rückgrat des Pferdes weitestgehend der Fall ist.

Im Menschen jedoch geht diese Systematik wegen der genannten Verkürzung verloren. Schon vom dritten Halswirbel an stimmen die periphären Nervenwurzeln nicht mehr mit den korrespondieren Zwischenwirbelausgängen überein. Statt dessen ziehen sich die Nerven im Wirbelkanal abwärts, bis sie nach immer länger werdenden Abständen austreten können. Es existiert eine klare Austrittsordnung, doch können die periphären Nerven eben nicht direkt an ihrer Wurzel austreten, sondern müssen dazu nach unten wandern.

Als Resultat verlaufen unterhalb des Rückenmarkstamms im Wirbelkanal nur noch periphäre Nerven. Dieses Phänomen der menschlichen Physiologie wird ‘Pferdeschwanz’ genannt. Die den unteren Teil des menschlichen Körpers innervierenden Nervenabschnitte L1 bis S5 befinden sich dadurch, wie schon erwähnt, oberhalb in den Wirbeln T10-12. Und genau diese Wirbel weisen interessanterweise auch die größte Beweglichkeit in der Wirbelsäule des Menschen auf.

Die beschriebene Verkürzung und resultierende Anordnung wirkt auf den ersten Blick befremdlich und doch scheinen hier Sinn und Verstand am Werk. Zunächst sei fest gestellt, dass eine solche Anordnung in einer der ständigen Erdanziehungskraft ausgesetzten Welt nur in einer aufrechten Wirbelsäule möglich ist. Nur so kann schädigender Druck auf die periphären Nerven im Wirbelkanal vermieden werden.

Hinzu kommt die Tatsache, dass der Mensch mit einem Rückenmarkstamm voller Länge geboren wird. Die Verkürzung entsteht erst im Zuge menschlichen Wachstums. In anderen Worten, die Wirbelsäule wächst. Das zentrale Nervensystem jedoch vergrössert sich nach der Geburt nicht mehr oder nur unwesentlich. Die Verkürzung des Rückenmarkstamms in der menschlichen Wirbelsäule scheint also mit den ausgedehnten Lernphasen der ersten Lebenjahre des Menschen zu tun zu haben, in denen auch die intellektuellen Fähigkeiten wie Selbsterkenntnis, Bewusstsein und abstraktes Denken entstehen. Ein Pferd steht nach der Geburt auf und kann, wenn es nötig sein sollte, gleich loslaufen. Der Mensch hingegen nimmt sich Zeit um krabbeln, stehen, sitzen, laufen und rennen zu lernen.

Als dritten Punkt, auf den sich zudem der Fokus dieser Abhandlung richtet, gestattet die Verkürzung des zentralen Nervensystems auch die Übereinstimmung nervlicher Übertragung zwischen Mensch und Pferd. Die Positionierung der den Unterkörper innerverierenden Nervenabschnitte im Oberkörper des Menschen, genau in dem Abschnitt der menschlichen Wirbelsäule, der auch die größte Flexibilität aufweist, bildet die Grundlage der zentralen Steuerung des Reitens.

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IV. d. Das periphäre Nervensystem

Die Qualität der Nervenimpulse hängt ganz wesentlich von den Haltungen der Wirbelsäule ab. Dieses Ergebnis als Resultat der diesjährigen Forschung des Study-Horsemanship birgt keine Überraschung, denn die Reaktion des Pferdes auf die Haltung des Reiters hat diese Erkenntnis schon immer nahe gelegt. Die Haltung des Reiters und daraus resultierender Reaktion des Pferdes bestimmt deshalb in großem Maße die Qualität des Reitens. Des Reiters Haltung und wie diese zu verbessern ist, präsentiert sich als das derzeitige Thema des Study-Horsemanship und steht im Zentrum kommender Untersuchung.

Das Pferd versteht die menschlichen Nervenimpulse gemäß ihrer Verteilung in den Dermatomen der Haut seines Reiters. Diese These wird unten dargestellt und sollte durch weitere klinisch-wissenschaftliche Nachforschungen weiter untersucht werden. Die bereits vorliegenden empirischen Nachweise bestätigen dieses physiologische Phänomen und der oben beschriebene Zusammenhang erweist sich schon jetzt, vor und neben weiteren Verifikationen und Einsichten in Ursachen und Wirkungen, als hilfreich in Theorie und Praxis des Reitenlehrens und -lernens.

Das periphäre Nervensystem geht vom zentralen Nervensystem aus und innerviert Körper und Haut. Jedes der periphären Nervenpaare besteht aus vier Strängen. Drei dieser Stränge mischen sich in den schon erwähnten Nervenbündeln neu und verteilen sich im Körper, um unter anderem Bewegung hervorzubringen. Der vierte Strang jedoch verläuft vom zentralen Nervensystem direkt zu den Dermatomen. Das heißt, das zentrale Nervensystem ist automatisch und ständig über alles informiert, was im und um den Menschen herum vor sich geht. Das Innerste des Menschen steht so mit dem Äusseren in Verbindung.

Die genannten Dermatome verlaufen nahezu horizontal im Körper und annähernd vertikal in Armen und Beinen. Zeichnete man sie auf der Körperoberfläche ein, so würde man schnell erkennen, dass sie die Hülle des Menschen in vier verschiedenen Regionen innervieren:

- die Nervenabschnitte des Halses den Kopf und Hals, die Schultern, Arme und Hände

- die Brustabschnitte den Brustkorb und die Innenseiten der Arme

- die Lendenabschnitte die Lendengegend, die Vorderseiten der Beine und einen Teil des Fußes

- die Kreuzbeinabschnitte das Gesäß, die Außenseiten der Beine und den anderen Teil des Fußes

Auf die gründliche Untersuchung der einzelnen Dermatome, ihrer Gruppierungen und deren Wechselwirkungen mit dem zentralen Nervensystem des Pferdes wird im zweiten Teil dieser Studie näher eingangen.

Schon jetzt lässt sich Folgendes festhalten: Die Verkürzung des zentralen Nervensystems im Menschen und die resultierende Positionierung der Nervenabschnitte L1-S5 in den Brustwirbeln T10-12 stellen eine zentrale Steuerungseinheit im Rücken des Reiters dar. Mit Hilfe dieser Steuerung reitet der aufrechte, gleichseitige Reiter das Pferd ohne jede Mühe. Seine Grenzen sind des Pferdes Möglichkeiten, dessen Gesundheit und Kondition und sein persönlicher Erfahrungsschatz in Bezug auf den Einsatz seines Körpers zu Pferd. Reiten ist selbstverständlich. Es erklärt sich von selbst, weil das Pferd nicht anders kann, als die Haltungen seines Reiters nachzuahmen und unter dem Sattel quasi als eine kraftvolle Verlängerung des Menschen zu funktionieren.

Die zentrale Steuerung im Rücken des Reiters, wie auch alle anderen nervlichen Übertragungen zwischen Reiter und Pferd, vollzieht sich mit vollkommener Präzision. Dies hat Licht- und Schattenseiten. Pferd und Reiter können den nervlichen Übertragungen nicht entgehen, da sie unwiderruflich sind. Des Reiters Gleichseitigkeit und eine gute Lesbarkeit seiner Nervenimpulse stehen für gute Resultate. Jeder Mangel verstärkt die Tendenz zur Schiefe und verschlechtert die Resultate.

Das Pferd liest den Menschen über die merkwürdige Verteilung periphärer Nervenimpulse in dessen Haut. Davon ist auszugehen. Und doch ist diese bemerkenswerte Tatsache am Ende nicht mehr als ein technisches Detail. Wirklich erstaunlich ist, dass in der Reiterei zwei ganz verschiedene Wesen, von einem Willen vereint, ihre strukturellen Beschaffenheiten und Nervensysteme teilen. Das Tier Pferd kann so den Menschen Mensch auf seinem Rücken verstehen. Es liest dessen Stimmungen, Absichten und Willen. Es nimmt seinen guten Willen wahr und erkennt, wenn dieser fehlt. Das Pferd weiß um des Reiters Kenntnis und sein Können in Sachen Reiterei.

Der Reiter hingegen kann sich auf solch detaillierte Informationen nicht verlassen. Er setzt auf Erfahrung und hat nur eine Chance, die nämlich - als Steuermann und Helfer - des Pferdes Vertrauen zu gewinnen und seine Kräfte abzurufen.

Was heißt das alles praktisch? Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass hinsichtlich der Physiologie die Haltung und hinsichtlich des reiterlichen Könnens das Wissen Grundlagen der Reiterei sind. Haltung und Wissen treffen einander in des Menschen sensorisch-motorischem System. Diesem vertraut sich das Pferd an und wird mit dem Reiter eins.

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Nachwort

Der Leser wird meinen Ansatz erkannt haben.

Bei der Erforschung der Reiterei und deren physiologischen Grundlagen habe ich nach dem Ideal gesucht. Nur gelegentlich gehe ich auf die Realitäten des modernen Reitsports ein. Ich habe in Platonischer Tradition in erster Linie nicht versucht zu verstehen, was ich sehe, sondern das zu begreifen, was dem Gesehenen zu Grunde liegt. Dieses Streben nach der Idee, die dem Offensichtlichen innewohnt, hat sich als richtig erwiesen. Meine Thesen wurden von den Forschungspferden und den Wenigen, die bisher mitgeforscht haben, als brauchbar bestätigt. Auch die Berichte gelegentlicher Testreiter weisen in die gleiche Richtung. Mein Vorgehen und die daraus resultierenden Ergebnisse haben in mir zudem eine ganz neue Welt des Vertrauens in den, der alles erschaffen hat, bewirkt.

Das moderne rechteckige Pferd ist nicht gerade. Die Herausforderung lautet deshalb: Wie können wir es geraderichten, ohne es dabei in seinem Allerinnersten zu verletzen?

Die Haltung des modernen Menschen ist nur selten aufrecht und die weit verbreitete und vorherrschende Unwissenheit um reiterliche Vorrichtungen im menschlichen Körper spricht für sich. Die Frage stellt sich deshalb, ob der Mensch das Reiten heute noch erlernen kann, und – wenn ja - wie er das moderne Pferd reiten soll. Haben Reiter und Pferd angesichts der heutigen Lebensumstände überhaupt noch eine Aussicht auf Einklang?

Schon vor Abschluss dieses Textes und während der Vorbereitungen des Folgetextes über die nervlichen Übertragungen zwischen Reiter und Pferd haben sich folgende weitere Forschungsfelder ergeben: “Wie Reiten lehren und lernen?” und “Wie das moderne Pferd verbessern?” Die unausgesetzte Wechselwirkungen zwischen Reiter und Pferd legen eine gleichzeitige Betrachtung auch dieser zwei Themen nahe.

Offensichtlich ist, dass diese weiteren Themen nicht – wie bisher geschehen – weitgehend von einem Reiter, nämlich mir, bearbeitet und bewältigt werden können. Vor allem die Untersuchung des reiterlichen Bewegungsapparats, seiner Tauglichkeit und/oder Wiederherstellung kann nur auf der Beteiligung zahlreicher Reiter beruhen. Ich füge deshalb einen ausführlichen Bericht über die Erfahrungen mit einer Probandin bei. Mit ihm möchte ich Ihnen, verehrte Leser, eine Vorstellung dessen vermitteln, was Sie bei einer möglichen Forschungsbeteiligung erwarten mag.

Erfahrungsbericht über die Arbeit mit einer Probereiterin

Dies ist mein Bericht über eine deutsche Reiterin, die sich im kommenden Jahr an der Forschung des Study-Horsemanship “Wie Reiten lehren und lernen” beteiligen möchte.

Der erste Ritt. Nach einigen unbedeutenden Korrekturen ist ihr Sitz im Gleichgewicht und die Beine hängen frei. Die Hände sind jedoch weiterhin heruntergedrückt und bewirken die Verkrampfung des vorgeneigten Oberkörpers. Mit dem Heben der Hände entspannt sich der Oberkörper. Die Linkswendungen sind gut. In den Rechtswendungen wendet sie ihre Schultern nicht in die Bewegungsrichtung, sondern fährt fort dem Pferd die Linkswendung anzudeuten. In anderen Worten, links herum kommt die äußere rechte Schulter vor, in der Rechstwendung kommt nicht, wie es korrekt wäre, die linke, sondern ebenfalls die rechte Schulter vor. Hinzu kommt eine Tendenz den Oberkörper zum Ausgleich nach rechts zu lehnen.

Der zweite Ritt. Die Probandin bittet um die Erlaubnis, einen Ausritt zu machen. Unterwegs kommt es zu Schwierigkeiten. Das Pferd zeigt Anzeichen von Ungehorsam. Angst kommt auf und sie kehrt nach Hause zurück.

Der dritte Ritt. Wir beginnen mit einer ausgedehnten Schrittreprise, während der ich hinter ihr her laufe. Sie korrigiert, was ich melde. Das heißt, sie bringt ihre Mittelpositur vor sowie das Becken ins Gleichgewicht und kann so die Wirbelsäule aufrichten. Sie hebt die Hände, bringt sie näher zusammen und trägt sie vor sich her, als halte sie zwei Kerzen. Sanft lehnen ihre entspannten Arme am Brustkorb und stabilisieren sich so.

Sie beginnt, ausgesessen auf einem Zirkel linke Hand zu traben. Ihr Pferd tritt ungleich. Grund hierfür ist - deutlich sichtbar - ein zögerndes rechtes Hinterbein. Sie beginnt diese Unregelmäßigkeit im Leichttraben zu korrigieren. Dazu bleibt sie alle paar Tritte einmal sitzen, verlegt so fortlaufend die Belastung von einem auf das andere und aktiviert damit das ‘faule’ Hinterbein.

Beim Wechsel auf die rechte Hand melden sich die Probleme vom Vortag wieder. Erfolglos setzt sie eine ganze Reihe von Maßnahmen ein, die alle auf eines hinauslaufen. Sie versucht die unbewussten falschen Anweisungen an das Pferd durch muskulär gestützte, weitere stukturelle Verbiegungen zu korrigieren. Als alles nichts nützt, beginne ich wieder hinter ihr her zu laufen und Rückmeldung darüber zu geben, was ich sehe.

Von dem, was ich aus diesem Blickwinkel sehe, ist Einiges die unmittelbare Folge der Schiefe des Pferdes, während Anderes aus einer falschen Korrektur dieser Schiefe und der Schiefe des Reiters zu resultiert. Ich kann diese drei Ursachen deshalb gut unterscheiden, weil ich die guten und die schlechten Lebenserfahrungen dieses Probepferdes genau kenne, weil ich dieses Pferd vor dem Proberitt selbst geritten und weil ich ähnliche Erfahrungen zu Pferd gemacht habe.

Die Korrektur ist einfach. Sie läuft auf eine diagonale Dehnung des Reiters durch das Senken des rechten Absatzes und das Vorbringen des alleräußersten Punktes der linken, zu diesem Zeitpunkt äußeren Schulter hinaus. Diese wird durch den führenden linken Zügel bei leicht angehobener Hand unterstützt. Nach nur wenigen Augenblicken beginnt das Pferd die diagonale Dehnung des Reiters nachzuahmen und das rechte Hinterbein stärker zu belasten. Und – allez hop – eine Tür öffnet sich. Die resultierende, wie selbstverständlich wirkende Leichtigkeit und völlige Zustimmung des Pferdes überrascht und erfreut die Reiterin.

Meine Vorgehensweise findet sich so bestätigt.

Bitte erfragen sie alle praktischen Einzelheiten einer möglichen Forschungsbeteilung bei c.sander@st-ho.com


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Über die Abbildungen

Grundlage der in dieser ersten Veröffentlichung des Study-Horsemanship gezeigten Abbildungen ist das Skelett einer Vollblutstute, die auf den Weiden des Haras de la Boulaye genau zu dem Zeitpunkt verstarb, als wir uns um den Ankauf eines Pferdeskeletts für Studienzwecke bemühten. Es sollte das Skelett eines Pferdes sein, dessen Abstammung und Lebensgeschichte bekannt ist. An ihm sollten die im Sattel und beim Studieren anatomischer Textbücher gewonnenen Erkenntnisse weiter verifiziert werden.

Die Überlegung war, dass nur ein Skelett bekannter Herkunft angemessene Auskunft über die Natur des Reitens geben kann. Denn ein Pferdeskelett ist nicht nur genetisch von seinen Vorfahren, sondern auch von seiner Aufzucht und seinen Reitern geprägt. Nur an Hand der Auskunft über Abstammung und Nutzung – so die Überlegung - würden sich mögliche Eigenarten eines Skeletts hinsichtlich seines ursprünglichen Zustandes und erworbenen Folgezuständen unterscheiden lassen. Zur Zeit dieser Überlegungen hatte ich keine Vorstellung davon, wie sehr sich diese gerade in dem Skelett bestätigen würde, welches wir nun selbst präparieren liessen.

Sinja, deren Skelett die Grundlage der Illustrationen dieser Studie wurde, war eine elegante dunkelbraune Vollblutstute, die ich 38-jährig zur Fortsetzung meines früheren Lebens im Sattel kaufte. Sinja begann ihre Ausbildung als Rennpferd mit einundeinhalb Jahren. Drei- bis sechsjährig gewann und plazierte sie sich in Rennen des Ausgleichs III und IV und wurde siebenjährig in den Ruhestand geschickt. Versuche sie in der Zucht einzusetzen waren erfolglos und nur aus diesem Grund konnte ich sie elfjährig kaufen.

Bis zu ihrem entgültigen Ruhestand im Alter von achtzehn Jahren war Sinja mein liebstes Reitpferd. Sie verstarb fünfunfzwanzigjährig im Kreise ihrer kleinen Herde. Der Grund ihres Todes war ein Splitterbruch des linken Oberarms, der die Hauptschlagader durchbohrte.

Sinja zu reiten war ein Vergnügen. Sie im Gleichgewicht und ruhig zu halten war Konzentration pur und - die Angst ritt immer mit.
Auf ausgedehnten Ritten kam mir gelegentlich die Überlegung, dass es möglicherweise vielversprechender sein könnte ein gutgezogenes deutsches Warmblutpferd zu reiten. Und doch, etwas an ihrer kraftvollen Art praktisch zu fliegen, ihre Fairness und ihre Leichtigkeit liessen mich nicht los.

Erst nachdem ich ihr Skelett als Präparat gesehen hatte verstand ich endlich ihrer Eigenarten. Die kissing spines, Arthrosen und Deformationen ihres Rückgrats erklären ihre Bodenscheu. Ihr Unwillen wie ein normales Pferd in der Reitbahn zu arbeiten, die Angst vor fremden Reitern und die immer drohenden Gefahr, sich in Stressmomenten fallen zu lassen, geben Auskunft über das in Retrospekt ausserordentliches Angebot mich überhaupt auf ihrem Rücken zu tragen.

Sinjas Skelett kehrte in Einzelteilen zu uns zurück. Nach der Ankunft betrachtete ich es immer wieder, aber erst mit der Entscheidung, die Knochen als Grundlage für ein virtuelles Skelett heranzuziehen, kam es im Zuge der Modellierung in einer hierfür spezialisierten Software (XSI) zu ganz genauen Untersuchungen. Die virtuellen Knochen wurden auf dem Bildschirm zusammengesetzt, verbunden und für die Animation vorbereitet.

Der 3D-Prozesses bewies sich in den Untersuchungen, wie denn nun das Pferd zum Reiten gemacht ist als ausserordentlich aussagekräftig. Die glasklar dagestellte Form der einzelnen ‘Bauteile’ des Skeletts, die Möglichkeit, diese im richtigen Größenverhältnis zueinander hin und her zu schieben und dabei ihre Funktionen ausgiebig und im Detail zu studieren bewährte sich als unersetzliches Mittel der Recherche des equiden Bewegungsapparats.

Schnell wurde klar, dass eine Säuberung des uns vorliegenden Skeletts notwendig und angemessen war. Das frühe Renntraining hat nicht nur zahlreiche Artrosen, Deformierungen und kissing spines in Sinjas Skelett hinterlassen. Nein, das ganze Skelett ist zu Gunsten des grossen Galoppsprungs verzogen, den auch schon ganz junge Rennpferde hinlegen müssen, um überhaupt eine Aussicht aufs Gewinnen zu haben.

Die Säuberungsarbeit wurde im Rahmen kinetischer und ästhetischer Parameter mit gesundem Menschenverstand und unter Aufsicht unseres Tierarztes vorgenommen. Auch dieser Forschungsaspekt stand im Gesamtzusammenhang fortgesetzten Ausprobierens und Prüfens der Haltungen und Bewegungsabläufe des Pferdes. Immer weiter ging es dabei darum, herauszufinden und sichtbar zu machen, wie das Skelett des Pferdes fürs Reiten vorgerichtet ist. Die gesäuberte Version trägt den Namen ‘Ideal’.

In dieser Veröffentlichung gezeigte Abbildungen wurden zum grösseren Teil dem gesäuberten Skelett (Ideal) entnommen. Nur einige entstammen dem Skelett (Real), welches wir wie vorgefunden modelliert haben. Letztere sind entsprechend gekennzeichnet. In einzelnen Fällen haben wir eine Gegenüberstellung der Versionen Ideal und Real vorgenommen.


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Impressum

Christine Sander:
Die Elemente der Reiterei (2005)

Herausgegeben von der
Association of Interdisciplinary Studies
in La Boulaye, Normandie
im Frühjahr 2007

© 2007 Christine Sander

Lektorat: Tom Pigl
Abbildungen: A.I.S. Study-Horsemanship/3D
Buchverwirklichung: www.jmh-design.de

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