In diesem Kapitel geht es um das Wunder des flexiblen mittleren Abschnitt im Pferderückens und um den Reiter, der ein Teil dessen ist. Allerdings hat dieses Wunder, wie sich herausgestellt hat, heute eine Einschränkung...
Der flexible Mittelteil des Pferdes ist der Sitzplatz des Reiters. Es ist ein königlicher Sitz, ein Platz, von dem regiert wird. In diesem mittleren Abschnitt werden die Bewegungsabläufe des Pferdes koordiniert. Das schnelle Laufen, das Springen, die spielerische Entfaltung des Pferdes auf der Weide und die Ausführungen der Hohen Schule, kurz gesagt, alle Bewegungen des Pferdes nehmen hier ihren Ursprung.
Im flexiblen Mittelteil steht dem Reiter alles zur Verfügung was er braucht um das Pferd zu meistern. Von hier spricht er die Haltungen des Pferdes an. Und es gibt in diesem Sitzplatz einen Ruhepunkt, auf dem der Reiter in vollkommener Stille sitzen und die Welt an seinen staunenden Augen vorbeiziehen lassen kann.
Abb.12 Der Ruhepunkt im Sitzplatz des Reiters
Gleichermaßen steht dem Pferd dieser Rückenabschnitt für die Beherrschung seiner Kräfte zur Verfügung. Alle Fähig- und Geschicklichkeiten, die ja den Wert eines Pferdes erst ausmachen, sind hier begründet. Und doch nimmt auch von hier, von diesem flexiblen Mittelteil, diesem Sitz des Reiters, die Schiefe des modernen Pferdes ihren Ausgang.
Bemühungen um die Zucht eines schnelleren Pferdes, vor allem im England des 19. Jahrhunderts, haben die Verlängerung dieses mittleren Rückenabschnitts im Pferd bewirkt. Die Umwandlung der ehemals quadratischen Grundform des Pferdes in ein Rechteckformat hat das schnellere und kraftvollere Pferd anfällig für Unregelmäßigkeiten in der freitragenden Wirbelbrücke seines Rückgrats gemacht. Dieses neue Rechteckpferd und seine Tendenz zur Schiefe hat den neue Arten des Reitens Anlass gegeben, die in der reiterlichen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts deutlich belegt sind.
Zusätzlich zu den Funktionen, die im flexiblen mittleren Pferderücken Reiter und Pferd zur Verfügung stehen, dient dieser Teil des Pferdekörpers einer weiteren Funktion, die das moderne Pferd einer speziellen Gefährdung aussetzt. Er nämlich spielt auch im Fluchttrieb des Pferdes eine wichtige Rolle. Die Fähigkeit ohne Umschweife zu flüchten braucht das friedliebende Pferd um in der freien Natur seine Sicherheit zu wahren. Es tut dies auf folgende Weise: Wittert ein frei lebendes Pferd Gefahr, so hebt es den Kopf und schärft seine Sinne. Bestätigen sich seine Vermutungen, so senkt es instinktiv den flexiblen Mittelteil seines Rückens. Dieses Senken löst den Fluchtreflex aus.
Der erfahrene Reiter weiß um die Gefahren, die sich für Reiter und Pferd aus dem Senken des flexiblen mittleren Rückenabschnitts unter dem Sattel ergeben. Kurzfristig droht die kopflose Flucht, bei der Reiter und Pferd zu Schaden kommen können. Bei wiederholtem Senken kommt es längerfristig zu Entzündungen zwischen den Dornfortsätzen. Die Folgen dieser zu Recht gefürchteten 'kissing spines' können die Möglichkeit, ein solches Pferd je wieder in Ruhe und Losgelassenheit zu reiten auf einen Schlag zunichte machen.
Kissing spines treten zwischen den Dornfortsätzen T9-16 auf. Sie haben neben dem Senken des flexiblen mittleren Rückenabschnitts weitere Ursachen wie zum Beispiel das Öffnen des Sakralgelenks, (dem ein Fallenlassen der gesamten freitragenden Wirbelbrücke folgt) oder aber verfrühte Leistungsanforderungen und Unfälle. Die Form resultierender Arthrosen in den Dornfortsätzen hängt in der Regel von der Geschichte ihrer Entstehung ab. Das Skelett der Vollblutstute Sinja wurde zur Vorlage unseres virtuellen 3D Skeletts, welches die Grundlage der Illustrationen dieses Textes ist. Die merkwürdige Ausformung der Dornfortsätze T9-16 dieses Skeletts deutet auf deren ständiges Berühren im Takt der Galoppsprünge hin.
Abb.13 Kissing spines im Sitzplatz des Reiters
Das Gegenteil des fallengelassenen Pferderückens ist der angehobene Sitzplatz des Reiters. Er ist das physiologische und psychologische Gütezeichen des zweiten Ganges. Dieses paradiesischen Zustandes also, in dem sich das Pferd kraftvoll und losgelassen, unter der vollen Kontrolle des Reiters, ohne Vorbehalte für den Reiter und die gemeinsame Sache einsetzt. Es ist dies eine Option, die jedem gesunden Pferd offen steht. Der zweite Gang des Pferdes wurde schnell zum Kern meiner Untersuchungen und des Themas, wie Reiten ursprünglich gemeint gewesen sein mag.
Auf dem angehobenen mittleren Rückenabschnitt ruhen die Gesäßknochen des Reiters an den Dornfortsätzen T12/13 des Pferdes, am Übergang zwischen dem oberen und dem langen Rückenmuskel. Seine entspannt hängenden Oberschenkel liegen genau auf der Mitte des unteren Rückenmuskels. Der Reiter befindet sich dadurch, ohne dass er anders könnte, in direktem Körperkontakt mit den drei großen Kraftquellen des Pferdes.
Abb.14 Die drei Rückenmuskulaturen und das Zwerchfell des Pferdes
Die Drehungen des reiterlichen Oberkörpers im flexiblen Mittelteil der menschlichen Wirbelsäule (T10-12) überträgt sich auf den flexiblen mittleren Rückenabschnitt des Pferdes genau vor seinen Gesäßknochen (T10-12). Sein Gesäß und seine beständig fallengelassenen Absätze wirken auf die Nervenabschnitte S2/3 im Sakralgelenk des Pferdes ein.
Und so wie der Reiter seinen Rücken einrichtet oder wendet, übertragen sich seine Nervenimpulse auf das Pferd. Dadurch hat er ein schlichtes, doch hocheffektives Mittel, um das Pferd entsprechend seiner Wünsche und Ziele geradezurichten und zu biegen, vorwärtszureiten und zu versammeln.
Eine detailiertere Betrachtung ergibt sich im zweiten Teil dieser Studie...
* Ursprünglich kam dieser Text zu dem Schluss, dass das Pferd nicht nur wunderbar gebaut sondern auch wie für den Menschen geschaffen ist. Die Ausführungen wiesen auf die gelunge Symbiose von Leistungs- und Kontrollfunktionen hin, die nicht nur im flexiblen mittleren Rückenabschnitt des Pferdes, sondern in seiner gesamten Physiologie immer wieder anzutreffen sind. Und auf die Tatsache, dass das rechteckige Pferd nicht mehr das Pferd ist, welches es einmal war, sondern ein Zuchtergebnis, das in Reaktion auf die Entdeckung der Geschwindigkeit entstand. Die Untersuchung verglich den gesenkten und den angehobenen mittleren Rückenabschnitt mit den Optionen des Lebens und wies auf den Humor hin, der häufig in der Unmittelbarkeit von “geht” und “geht nicht” entsteht. Zu guter Letzt sprach der Text von dem erhöhten Verletzungsrisiko, das für Mensch und Biest mit dem Reiten des schnelleren, kraftvolleren Pferdes entstanden ist. Und verwies auf die Schiefe des Pferdes als die Herausforderung der modernen Reiterei.
Und nun, ein Jahr später, stellt sich heraus, dass Weiteres zu diesen Themen zu sagen ist…